Vielleicht entgegen ihrem Ruf hat sich Lyrik schon immer mit den dringenden Problemen der Gegenwart auseinandergesetzt – man denke etwa an das Werk der US-amerikanischen Autorin Muriel Rukeyser, das sich mit sozialer Gerechtigkeit befasst, oder and Schriftstellerin und Aktivistin Audre Lorde, die in ihrem Essay «Poetry is not a luxury» schreibt:
Poetry […] lays the foundations for a future of change, a bridge across our fears of what has never been before
Audre Lorde
Diesen Glauben an das inhärente Potential lyrischer Sprache für Veränderung scheint das neue Buch der Berliner Dichter*in und Musiker*in Rike Scheffler, «Lava. Rituale» zu teilen. Die 1985 geborene Künstler*in bezeichnet die Gedichte in ihrem neuesten Werk als «Archive aus einer Zukunft». In diesen Archiven, die in sieben Kapitel unterteilt sind und Zeiten vom späten 20. Jahrhundert bis nach 2300 umfassen, werden etwa Störche verewigt – «ihr Flug von Schnabelklappern / aufgeraut, durch Äcker» – oder der Wind – «kein Mensch / könnte ihn fassen, / wie er durch den Wald geht».
Die Sprache überwindet Binaritäten
Doch sind Schefflers Archive eben Archive aus der Zukunft. Somit wird in «Lava. Rituale» nicht bloss die Vergangenheit für eine Zukunft festgehalten, in der die Klimakatastrophe schon geschehen ist, sondern auch spekuliert, was sein könnte, ganz im Sinne von Lordes Verständnis der Poesie. Dies widerspiegelt sich in der Sprache, die plötzlich fragmentarisch wird, bis zu dem Punkt, wo sich Pronomen («:ch», «w:r») auflösen und Wörter wie «l:ben» für lieben und leben gleichzeitig stehen und so die untrennbare Verbindung der beiden Konzepte hervorheben. Dies ist natürlich auch eine Aussage: Was ist Leben wert ohne Liebe? Und ist Leben ohne Liebe überhaupt möglich? Gerade im Kontext der Klimakrise bietet dies eine erfrischend neue Perspektive, die ganzheitlich gedacht wird.
Gleichzeitig löst diese einzigartige Sprache jegliche Binaritäten auf – und zwar nicht nur zwischenmenschliche, sondern auch in Bezug auf die Trennung Mensch/Natur oder Natur/Technik, wenn etwa «Wind auf den Lippen, Meere aufsaugen / wie ihre Körper meinen Geruch» oder «w:r» «unzähmba:re Glitch» sind.
Denn in «Lava. Rituale» spielen nicht nur das Körperliche und Empfindbare, sondern auch die künstliche Intelligenz eine wichtige Rolle. Was sprachlich nur angedeutet wird, ist visuell in Form von Klebern mit verschiedenen Motiven klarer erkennbar. «Künstliche Intelligenz kann, positiv gedacht, auch als Vermittlerin zwischen verschiedenen Spezies funktionieren», sagt Scheffler dazu. Für dieses Buch hat sie Begriffe aus ihren Gedichten der KI «Midjourney» gefüttert, die dann entsprechende Bilder kreiert hat. Tatsächlich funktioniert dieses Bildmaterial hervorragend mit dem Text: Wie die Sprache, die neu erfunden wird, ermöglicht die KI eine Art neues Betrachten der irgendwie vertraut und doch fremd wirkenden Formen.
Eine Alternative für die Gegenwart
Zudem wird die Leser:in durch die Option, die Kleber an den entsprechenden Stellen einzukleben, quasi aktiver Teil des Buches. Wie der Titel schon vermuten lässt, ist eben nicht nur der banale Akt des «am Morgen / eine Kaffeemaschine zu füttern» ein Ritual, sondern insbesondere auch lyrische Sprache. «Lava. Rituale» bringt somit Schreibende*r und Lesende zusammen, wodurch die Wichtigkeit des Gemeinschaftlichen in Sprache und, wenn man denn will, Aktivismus hervorgehoben wird.
Damit gelingt es Scheffler eben genau, unsere Ängste bezüglich Klimakrise zwar eindringlich festzuhalten, diese aber zu überbrücken zu dem, was noch nie gewesen ist – und durch diese erdachte Zukunft präsentiert «Lava. Rituale» den Lesenden zugleich eine alternative Perspektive für die Gegenwart: eine, die non-binär, queer und feministisch ist und somit plötzlich wieder Hoffnung für die Zukunft aufkeimen lässt.
«Lava. Rituale» ist ist ein sinnlich-immersives Triptychon aus Buch, Performance sowie einer Sound- und Videoinstallation. Die Solo-Konzertperformance «Echoes from the Future» ist eine Vertonung der Gedichtzyklen mit live Musik. Die Sound- und Videoinstallation «Lava. Ritual» (Spielzeit 12 Minuten) basiert auf dem letzten Kapitel des Lyrikbands und lädt ein, durch Lauschen, Aneignen und Weitertragen seiner Verse Teil der Gedichträume und ihrer Gemeinschaften zu werden.
Kommende Lesungen von Rike Scheffler:
15.6. 19h Live Ritual mit Lesung aus «Lava. Rituale» LCB Berlin
23.7. Lesung mit Angela Rawlings, The Nordic House Reykjavík
09.09. Lesung Literarisches Zentrum Göttingen
30.09./1.10. Steirischer Herbst Ramsau, literarischer Spaziergang mit Karin Hochegger
24.10. Lesung bei CLIMATE FICTION Basel
04. Juni 2023