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Drogen: Platzspitz – von Elend und Erkenntnis

Zwei Jahrzehnte lang fand man mitten in Zürich die grösste offene Drogenszene der westlichen Welt. Warum die Geschichten vom Platzspitz nie in Vergessenheit geraten dürfen und was dies mit unserer Gesellschaft gemacht hat: Wir haben mit einem ehemaligen Konsumenten gesprochen, der fünf Jahre lang auf dem Platzspitz lebte.

Von Michèl Kessler

Fast schon malerisch schliesst die Limmat und die Sihl den Platzspitz ein. Ein idealer Ort um das Mittagessen zu geniessen, den Feierabend mit einem Bierchen ausklingen zu lassen oder sich am Wochenende mit Freunden zu treffen. Der idyllische Park im Herzen von Zürich hinter dem Landesmuseum, gleich beim Hauptbahnhof Zürich, lässt heutzutage nicht erahnen, wie es da vor rund 30 Jahren noch aussah. Denn, es war die grösste offene Drogenszene Europas.

In den frühen 70-er Jahren nahm in der Schweiz der Konsum von Drogen, vor allem von Heroin, bei den Jungen deutlich zu. Schweizweit, aber besonders in Zürich bildeten sich kleinere Drogenszenen, wo offen mit illegalen Substanzen gedealt – und an öffentlichen Plätzen konsumiert wurde. Nicht selten suchte man sich für den Konsum die schönsten Plätzchen aus, damit das Drogenhigh in den idyllischsten Szenerien, in aller Ruhe, genossen werden konnte. So wurden etwa die Riviera beim Bellevue, die Letten oder der Hirschenplatz Hotspots für den Konsum von Drogen. Wie die Stadt Zürich schreibt, versuchte die Polizei diese Szenen immer wieder aufzulösen, die repressiven Massnahmen waren aber letztlich wirkungslos.

Die Situation verschlimmerte sich im Jahr 1985 durch das Verbot der Spritzenabgabe. Der Konsum von Drogen wurde demnach so unsicher, dass sich unter den Konsumment:innen schwere Krankheiten wie HIV und Hepatitis verbreiteten. Das Verbot wurde daher auch nach einem Jahr wieder aufgehoben und die Stadt Zürich richtete eine Spritzenabgabestelle auf dem Platzspitz ein.

Ab 1986 wurde dann der Platzspitz endgültig zum Treffpunkt für Dealer:innen, Konsument:innen und Randständige, die zuvor von den anderen Plätzen vertrieben wurden. Mit der Spritzenabgabestelle auf dem Platzspitzareal entschied die Polizei auch erstmal, keinen Ordnungsdienst mehr durchzuführen.
Die Folgen: Eine unvorstellbar riesige Ansammlung von Abhängigen und solchen, die den Konsum förderten. Armut, Abhängigkeit, Kriminalität und sogar Tod zierten ein Bild des Elends in aller Öffentlichkeit. Offener Drogenhandel und -konsum inmitten der reichen Schweiz brachten Zürich einen grotesken Ruhm. Rund 2000 Personen deckten sich hier täglich mit Drogen ein, zeitweise hielten sich nach Angaben der Stadt Zürich bis zu 3000 Kosnument:innen im Park auf. Die offene Szene wurde von Politik und Polizei lange toleriert (oder unter den Teppich gekehrt) so dass der Zulauf immer grösser wurde. Abhängige aus der ganzen Schweiz und aus dem Ausland trafen sich am Platzspitz. Die Anlage erregte als Needle Park auch internationales Aufsehen. Trotz dieser misslichen Situation gab es auf dem Platzspitz nur eine sporadische medizinische Versorgung – und die nur durch private Initiativen. Rund 3600 Mal mussten Menschen wegen Heroinüberdosen wiederbelebt werden, an Spitzentagen bis zu 25 Mal.

Über diese Jahre am Platzspitz könnte man Bücher schreiben. Von Pfarrer Sieber, dem Versagen von Politik und Staat oder dem Voyeurismus der Gesellschaft, der ganzen Welt.

Aber wie war es, an solch einem Ort zu (über)leben? Fünf Jahre dort zu verbringen, mitten im Elend? Ich durfte mit Simon sprechen, der heute auf eine Zeit zurückblickt «die wirklich kein einzig schönes Erlebnis mit sich brachte». 

Horror Szenerie mitten in Zürich

Zwischen 1986 und 1991 lebte Simon als Konsument auf dem Platzspitz. Als Sohn sehr religiösen Eltern, der Jüngste von zehn Kindern, wollte er aus diesen Fugen ausbrechen. Bibeltreu erzogen war der Wunsch gross, all dem zu entfliehen. Obwohl auch schon dazumals anfänglich die Aufklärung über Drogenkonsum ins Rollen kam, war der Reiz des Rausches bei den Jugendlichen gross. Gekifft und geraucht hat er schon früh, mit Heroin aber erst anfangs 20 begonnen.

Das Gespräch ist eine Zeitreise in eine dunkle Ära von Zürich, die man sich heute nicht mehr wirklich vorstellen kann. Simon erzählt mir, wo das kleine Häuschen für die Spritzenabgabe stand. Dass beim Rondell die ganz grobe Szene war. Wo die Banker über die Mittagspause ihr Kokain kauften. Und dass bei der Brücke jene waren, die gfilterlet haben. Wurde Heroin durch Zigarettenfilter aufgezogen, blieb zwar nur ein mickriger Anteil im Filter zurück, hat man diese aber gesammelt, bekam man mit ein paar Filter wieder bereits genug Stoff für den nächsten Schuss. Die Sucht und Verzweiflung war unglaublich gross am Platzspitz.

Kriminalität, Prostitution und Waffen waren ebenfalls an der Tagesordnung. Banden von jungen Migrant:innen, die Stoff verkauften. Menschen, die man monatelang jeden Tag gesehen hat und plötzlich nicht mehr auftauchten – vermutlich gestorben an einer Überdosis oder im Gefängnis.

In mir löst die Vorstellung an solch einen grausigen Ort ein beklemmendes Gefühl aus. Ob man da nicht Angst hatte, will ich von Simon wissen. «Glaub mir, Angst kannte man nicht. Es ist wichtiger gewesen, ans Material zu kommen.»

Das Überleben im Dreck und der nächste Schuss nahmen fast den kompletten Lebensinhalt ein. Der Drang nach der Befriedigung der eigenen Sucht war schlussendlich immer stärker als moralische Grundsätze. Daher waren auch richtige Freundschaften untereinander eine Seltenheit. Liebe und Freundlichkeit waren fernab vom Platzspitz, erzählt Simon. 

Räumung ohne Erfolg

Bis kurz vor der Räumung des Platzspitzs, 1992, lebte Simon dort. Die Schliessung löste das Drogenproblem allerdings nicht. Dass die Politik zu lange die Augen vor dem Elend verschloss, kritisiert auch Simon. Auch nachher fehlte es an sozialen und medizinischen Massnahmen, um die Tausenden von Abhängigen aufzufangen und zu versorgen. Die Menschen konnte man zwar vom Platzspitz weg bringen, das Suchtproblem in der Gesellschaft war damit aber nicht beseitigt. So verschob sich die Szene erstmal in die Wohnquartiere der Kreise 4, 5 und 6, was Anwohner:innen, dem Gewerbe und den Schulen natürlich nicht gefiel. Ab 1993 etablierte sich die Szene auf dem stillgelegten Bahnhof Letten, wo die Zustände laut der Stadt Zürich noch unhaltbarer und brutaler waren als auf dem Platzspitz. 1995 wurde schliesslich auch der Letten geschlossen, womit die offene Drogenszene in Zürich ein Ende fand.

Die Auflösung der Letten-Drogenszene verlief im Gegensatz zur Platzspitz-Räumung erfolgreicher, weil sie sowohl von präventiven als auch repressiven Massnahmen begleitet war – und weil die Stadt diesmal von Kanton und Bund unterstützt wurde. So hatte der Bund unterdessen die kontrollierte Heroinabgabe erlaubt. Die umliegenden Gemeinden hatten auf Druck des Bundes und der Stadt Einrichtungen geschaffen, um «ihre» Süchtigen zu unterstützen, wie die Stadt Zürich auf ihrer Website schreibt. 

Verlust der besten Jahre

Obwohl Simon nach eigener Aussage die besten Jahre seines Lebens verloren hat, prägte ihn die Zeit am Platzspitz auch positiv. Mittlerweile ist er nämlich seit vielen Jahren clean – seit drei Jahren verzichtet er zudem auch komplett auf Alkohol. Die Zeit am Platzspitz lehrte ihn gewzungenermassen, eigene Prioritäten und Werte kennenzulernen. Sich konkret mit dem eigenen Leben auseinanderzusetzen. Und wenn man mal so tief war, schätzt man das Hoch auch wieder viel mehr. 

Natürlich würde er vieles anders machen, erzählt er mir weiter. Er sei auf viele Dinge nicht stolz – Entzugsversuche und Abbrüche zierten seine Zwanziger, da gäbe es wohl weitaus Schöneres zu erleben. 

Mittlerweile sei er zwar längst über diese Zeit hinweg, emotional mache ihn dieses Thema aber trotzdem noch. Das Erlebte habe ihn gestärkt, stark geprägt und ihm die dunklen Seiten des Lebens gezeigt. 

Schicksale, ähnlich wie die von Simon, gibt es Tausende. Auch wenn viele gestorben sind, leben die traurigen Geschichten noch jahrzehntelang weiter. Viele individuelle Leben wurden durch den Platzspitz geprägt. Am meisten aber wahrscheinlich die Gesellschaft: Wäre die Szene nicht derart ausgeartet, würde die Regierung vielleicht noch heute die Augen vor dem Drogenkonsum verschliessen – und macht sie bis zu einem gewissen Grad ja immer noch. Auch wenn tragische Geschichten aus dieser Zeit bedrücken, brachten die Ereignisse auch eine gesellschaftliche Kehrtwende. Simon erzählt mir, dass beispielsweise auch bürgerliche Parteien einsehen mussten, dass exzessiver Drogenkonsum viel weiter verbreitet war, als vielleicht angenommen. Am Platzspitz kamen verschiedenste Schichten und Geschichten zusammen. Den oder die typischen Konsument:innen gibt es nicht. 

Nach einem langen und emotionalen Gespräch will ich von Simon wissen, was er denn jetzt, jahrelang danach, über seinen Drogenkonsum und allgemein Drogen denkt. Eine Denkpause und tiefen Seufzer später antwortet er mir: «Weisst du, man soll echt gar nie damit anfangen. Das hört man zwar immer, ist aber wirklich so. Denn etwas muss ich sagen: Das Gefühl von Heroin ist das beste, das man je fühlen wird. Die Droge macht etwas mit einem, das man nicht beschreiben kann.» Unter anderem sei es daher auch so unglaublich schwierig, wieder von der Substanz loszukommen. Emotionale, wie auch physische und psychische Abhängigkeit machen das Überwinden der Drogensucht zu einem harten Kampf und übersteigt jede Oberflächlichkeit, die man vielleicht annehmen würde.  Das intensive Verlangen nach einem Gefühl, welches man sonst nicht bekommt, hat einem in kürzester Zeit in einem verhängnisvollen, festen Griff. Abhängige sind nicht einfach nur Junkies, die es toll finden, sich den nächsten Kick zu geben. Perspektivlosigkeit, gepaart mit Frustration und einer abweisenden Gesellschaft verleiten oftmals zu einer Abwärtsspirale des Aufgebens und der Hilflosigkeit.

Der Platzspitz war eine harte Schule für die Überlebenden, aber auch für die Gesellschaft. Umso wichtiger sei es deshalb, dass man diese Zeit nie vergessen dürfte. Sucht und Drogen würden immer ein Teil der Menschen einnehmen – dass man davor aber nicht die Augen verschliesst, sei essenziell, um die nötige Hilfe für Betroffene bereitstellen zu können.

Brauchst auch du oder jemand aus deinem Umfeld Hilfe?

Sucht Schweiz, Tel. 0800 104 104
Feel-ok, Informationen für Jugendliche
Safezone.ch, anonyme Onlineberatung bei Suchtfragen
Infodrog, Information und Substanzwarnungen
Sozialwerk Pfarrer Sieber, Hilfe für notleidende Menschen

Ein grosses Dankeschön an Simon für ein emotionales und offenes Gespräch über eine Thematik, die niemals an Relevanz verlieren wird.

11. Juli 2022

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