Es passiert mir nicht oft, dass ich ein Buch zuklappen muss, weil es zu brutal und grausam ist. Beim Lesen von «Ein wenig Leben» geschieht das gerade – der Fiktion zum Trotz – alle paar Seiten. Ein einziges vernarbtes Leben und ich halte es nicht aus.
Am Morgen höre ich beim Frühstücksmüsli dann durch die Nachrichten und die Welt da draussen staubt und blutet in meine Küche. Tausende tote Kinder in Gaza, Bombensplitter, getötete Helfer*innen, ein sterbendes Land. Was ich fühle dabei? Mittlerweile nicht mehr viel. Wie ist das möglich? Wie kann mich literarisches Leid so viel härter treffen als das, was auf unserem Kummerstern so viel Grausameres tagtäglich passiert?
Die Psychologie spricht vom «Psychic Numbing», dem Abstumpfen der Psyche und des Geistes. «Humankind cannot bear very much reality», so T.S. Eliot. Je grösser das Leid, je erdrückender und einseitiger die Bilder, die auf uns einschlagen, desto weniger fühlen wir. Das Böse wird alltäglich, beinahe banal, zur hässlichen Tapete in einem heruntergekommenen Haus, die wir zwar als hässlich abtun, aber irgendwann gehört sie halt einfach dazu. «Compassion is an unstable emotion. It needs to be translated into action, or it withers», schreibt Susan Sontag in «Regarding the Pain of Others». Und ich versuche mit solch klugen Worten, Nichtstun ein Stück weit zu legitimieren.
Doch nicht alle geben sich mit dieser Tapete zufrieden, viele lassen Zorn und Mitleid nicht vorüberziehen: Eine Frau, mit der ich früher mehr als nur gut befreundet war, engagiert sich wütend und kompromisslos für die Sache der Palästinenser*innen. Jede Gleichgültigkeit ist für sie Verrat und Komplizenschaft. Mir fällt hier immer wieder ein Zitat ein, das gerne Bertolt Brecht zugeschrieben wird: «To those who do not know that the world is on fire, I have nothing to say.»
Wie moralisch ist es, ständig Positionierung einzufordern (in der Regel aber doch nur für die eine Sache) und jene zu verurteilen, die keine oder andere Kämpfe – vielleicht für sich im Kleinen – austragen? Wie moralisch ist es, sich nicht immer zu positionieren, ab und an mal den grossen Streit der Welt vorüberziehen zu lassen? Selbst oder gerade weil dahinter schlimmstes Leid wartet? Wie oft ist ein kühler Kopf doch eher Zeichen von Überforderung und Selbstschutz als von Gleichgültigkeit?
Vielleicht liegt da das Dilemma für viele: dass wir ständig gefordert sind, Anteil zu nehmen, Stellung zu beziehen, Meinung kundzutun; Meine Grautöne der Rechtschaffenheit verlieren sich zwischen Schwarz-Weiss-Denken und der Erschöpfung einer überdehnten Moral. Wer hat das Recht, mir mehr aufzubürden? Wem sind wir verpflichtet? Wem was schuldig? «You can’t save everybody. God hasn’t asked you to», meint Anne Lamott.
Wenn ich «Ein wenig Leben» lese, zwingt mich die Geschichte, hinzusehen. Ein steriler Testraum, in dem mein Kopf auf moralische Tuchfühlung geht. Was ist rechtens, was nicht? Was erschreckt mich, was lässt mich kalt? Gibt es noch etwas, das mich bewegt und berührt? Was will ich in meinem kleinen Leben von nun an besser machen, wofür setze ich mich morgen ein? «To do nothing is not to do nothing. It´s to hold yourself still so that you can see whats really there», sagt Jenny Odell.
Wenn hingegen die Nachrichten dieser Welt auf mich einprasseln, dann sind sie härteste Kulisse, ein widerliches Fieber, das einen fortreisst; mit dem nicht alle klarkommen. Dafür entschuldige ich mich. Ich akzeptiere beides: Wir müssen nicht alles ertragen; ihr dürft es uns verübeln.