Text von den Gastautorinnen Susanna Bosch und Anja Jeitner.
Wenn Lourdes Huanca von Peru erzählt, spricht sie ruhig und bedächtig, dabei entstammen ihre Worte einer ungemeinen Wut. Von Massenprotesten erzählt die 53-Jährige, von der massiven Gewalt der Polizei, von mindestens 900 verletzten und 60 getöteten Zivilist:innen seit Dezember in ihrem Heimatland Peru.
Es ist Ende März, irgendwo in der Zürcher Altstadt; die erste Frühlingssonne dringt bereits durch die Eiseskälte. Von dem Ausnahmezustand, der im Dezember 2022 ausgerufen wurde und in einigen Regionen Perus bis heute anhält, haben hier nur wenige mitbekommen. Ein Zustand, der es der Regierung erlaubt, Ausgangssperren zu verhängen, die Versammlungs- und Bewegungsfreiheit einzuschränken oder Verhaftungen und Hausdurchsuchungen ohne Befehle vorzunehmen. Auch die Armee könne uneingeschränkt Gewalt anwenden. Politische und polizeiliche Gewalt, die sich laut Lourdes Huanca systematisch gegen die indigenen Protestierenden richtet. «Alle Mächte in unserem Land sind gegen uns. Die Regierung, die Kirche, die Wirtschaft, das Militär…», das habe sich durch die Geschehnisse noch einmal verdeutlicht.
Wegen der Gewalt an ihren Mitstreiter:innen habe sie im Januar zuerst gezögert, Peru zu verlassen und einer Einladung der Europäischen Kommission nach Brüssel zu folgen, erinnert sich Huanca. Für die Reise entschied sie sich schliesslich, um die internationale Aufmerksamkeit auf ihr Land zu lenken, um Hilfe zu holen in einer Lage, die selten so ausweglos schien. Während des Gesprächs im März befinden sich auf den Strassen von Peru Tausende ihrer Mitstreiter:innen und protestieren gegen die aktuelle Regierung. Übergangsregierung muss man sagen, denn der 2021 gewählte Präsident, Pedro Castillo, wurde im Dezember 2022, nach dem er die Auflösung des Parlamentes angekündigt hatte, seines Amtes enthoben. An seine Stelle trat Dina Boluarte.
Auch jetzt – Mitte Juli – hat sich an diesem Zustand nichts geändert. Eine Aufarbeitung der brutalen Gewalt im Frühjahr seitens der Regierung blieb aus, den Forderungen nach Castillos Befreiung wurde immer noch nicht nachgekommen. In den letzten Wochen haben sich verschiedenen soziale, politische und gewerkschaftliche Organisationen aus dem Landesinneren deswegen erneut zusammengeschlossen. Nach den ersten zwei Protestmärschen auf die Hauptstadt im Januar und März soll am 19. Juli eine Grossdemo unter dem Motto «La Tercera Toma de Lima», «die dritte Einnahme von Lima», folgen.
Lourdes Huanca ist Aymara-Indigene und zählt heute zu den wichtigsten Aktivist:innen Perus. Vor 17 Jahren hat sie FEMUCARINAP mitgegründet, ein feministischer Zusammenschluss indigener Handwerker:innen, Lohnabhängiger und Bäuer:innen. Die Föderation zählt mittlerweile über 160’000 Mitglieder und ist grundlegend feministisch ausgerichtet: «Ziel unserer Arbeit ist es, indigene Frauen, die in Peru allgemein als ungebildet und nichtsnutzig gelten, wirtschaftlich, kulturell, sozial und politisch zu stärken. Uns zu befähigen, unser Territorium und unseren Körper zu verteidigen. Dass einerseits respektiert wird, was wir als Frauen entscheiden. Zum anderen geht es uns um die Verteidigung unseres Territoriums, unseres Landes, unseres Wassers, unseres Saatguts, unserer Kultur, um die Verteidigung und den Kampf für Ernährungssouveränität. Wenn wir um unsere Rechte kämpfen, sind diese beiden grundlegenden Punkte verwoben», sagt Lourdes Huanca.
Der Anspruch auf das eigene Territorium ist gerade für die indigene Bevölkerung alles andere als selbstverständlich. Es ist vielmehr ein ständiger Kampf um den eigenen Lebensraum. In Peru leben die meisten indigenen Menschen in den ländlich geprägten Regionen des Südens und üben traditionelle Berufe in der Landwirtschaft aus. In genau diesen Regionen werden heute die meisten Ressourcen des Landes abgebaut: Ob Gold, Kupfer, Silber oder Lithium – Peru gilt punkto Bodenschätze als eines der reichsten Länder Südamerikas. Die internationale Industrie hat Peru längst als attraktive Rohstoffquelle vermessen – so auch das in der Schweiz ansässige multinationale Unternehmen Glencore. Deren Interessen unterstützt wiederum die neoliberale Regierung in Lima seit Jahrzehnten. Zuletzt insbesondere, um der Rohstoffnachfrage für die Energiewende im globalen Norden nachzukommen. Freihandels- und Doppelbesteuerungsabkommen zwischen Peru und der Schweiz erlauben es dem Unternehmen so, seine massiven Gewinne nicht in Peru, sondern grösstensteils in der Schweiz zu versteuern; die peruanische Bevölkerung sieht kaum etwas davon. Gleichzeitig stehen riesige Kupferminen wie die Glencore Antapaccay in der südlichen Provinz Espinar unter dem Schutz der peruanischen Nationalpolizei, welche paramilitärische Gruppen in der Region gegen Protestierende einsetzt.
Durch diesen intensiven Abbau werden verschiedene Metalle freigesetzt, welche Mensch und Umwelt stark belasten, wie eine Recherche von Amnesty International zwischen 2018 und 2020 nachweisen konnte. Während der gesamte Profit an die kleine Oberschicht Perus, vor allem jedoch ins Ausland geht, sieht die, von den direkten Konsequenzen betroffene, Bevölkerung nichts von den Erträgen. «Wir wollen gute Strassen, gute Schulen, ein gutes Krankenhaus. Wir sollten Trinkwasser, eine ordentliche Kanalisation haben. Die Gemeinden haben überhaupt nichts», sagt Huanca.
Die systematische Ausbeutung der indigenen Bevölkerung läuft einher mit dem tiefgreifenden Rassismus, den das Land seit über 200 Jahren prägt und die soziale Kluft besonders in den letzten Jahren weiter aufgerissen hat: «Die Verachtung gegenüber uns ist verheerend: es beginnt in der Schule, wo unsere Kinder verspottet und ausgegrenzt werden, weil sie eigene Sprachen und kein Spanisch sprechen.» Die Verpestung der Umwelt und der systematische wirtschaftliche Ausschluss zwingt viele indigene Menschen zur Migration in die Städte Perus, wo der Rassismus und die Diskriminierung noch einmal tiefer greifen. Arbeit lässt sich meist nur illegal und im tiefsten Lohnsektor finden.
Obwohl die Landesverfassung Gleichstellung verspricht, ist die indigene Bevölkerung in ihrer politischen Teilhabe stark benachteiligt: Im nationalen Parlament ist sie mit lediglich fünf Prozent vertreten. Durch diese starke Unterrepräsentation bleiben ländliche Gebiete von politischen Umweltentscheiden weitgehend ausgeschlossen. Dies, obwohl die die Klimakrise in den vergangenen Jahren Umweltkatastrophen und Ernteausfälle verursacht hat, die grosse soziale Probleme zur Folge hatten.
Die Wahl von Pedro Castillo 2021 gab vielen Menschen aus dem Süden des Landes Hoffnung. Als erster Präsident mit indigenen Wurzeln versprach Castillo unter anderem die Aufklärung von Umweltskandalen und eine neue Verfassung, die für mehr Gleichberechtigung sorgen sollte. Weiter wollte er garantieren, dass ein Grossteil der Gewinne multinationaler Bergbaukonzerne im Land selbst bleibt. Gesellschaftspolitisch verfolgte Castillo hingegen eine klar konservative Linie. So befürwortete er beispielsweise die Todesstrafe und sprach sich gegen die Legalisierung von Abtreibungen oder der Sterbehilfe aus. Castillos 16-monatige Amtszeit war geprägt von Unruhen und Protesten. Ausgelöst unter anderem durch die hohe Armut, die sich durch die Massnahmen gegen die Covid-19-Pandemie noch einmal verstärkt hatte.
Castillos Absetzung und Inhaftierung im Dezember 2022 wurden in Folge seiner Ankündigung, den Kongress aufzulösen, in die Wege geleitet. Viele Menschen sehen die Amtsenthebung jedoch als Ausdruck einer korrupten Regierung, welche Castillo seine Amtszeit auf keinen Fall regulär zu Ende führen lassen wollte. So auch Lourdes Huanca. Castillo habe zwar den korrekten Prozess zur Auflösung des Parlaments übersprungen – FEMUCARINAP hätte es damals vorgezogen, diesen Schritt auf legalem Wege einzuleiten – seine Absetzung sei aber dennoch der grossen Handlungsmacht multinationaler Konzerne geschuldet: «Die grossen Unternehmen und die politische Legislative versuchen stets Gesetze zu durchbrechen, welche die Rechte der indigenen Bevölkerung garantieren. Den ersten Präsidenten, der sich für unsere Rechte und die Aufklärung von Umweltskandalen einsetzt, seines Amtes zu entheben, ist Teil dieser politischen Missachtung.» Die Machtübernahme Dina Boluartes sei für viele Protestierende Teil des Rassismus und der Verachtung, die sich seit Jahrhunderten systematisch gegen die indigene Bevölkerung richten.
Für FEMUCARINAP und weite Teile der indigenen Bevölkerung ist der Kampf für Mitbestimmung und Gerechtigkeit aktueller denn je. «Wir sind eine Organisation mit politischer Perspektive. Wie bereiten uns vor und bilden uns aus, um in verschiedenen Organisationen politische Entscheidungen mittreffen und das Recht auf politische Teilnahme wahrnehmen zu können. In Workshops und Versammlungen sprechen wir regelmässig über unsere Forderungen an die Regierung und an eine neue Verfassung», erklärt Lourdes Huanca. Sie habe die Organisation damals mitgegründet, um machoiden und patriarchalen Strukturen zu entkommen. Deshalb sei es wichtig, niemanden aussen vorzulassen. Die Akzeptanz und Zugehörigkeit einer Vielfalt von Sexualität und Gender sei FEMUCARINAP von Beginn an ein wichtiges Anliegen gewesen. Es gehe darum, Menschenrechte zu verteidigen und dabei niemanden zu diskriminieren: «Kämpfen heisst: Feministin sein. Und Feministin sein bedeutet, dass wir uns untereinander solidarisch zeigen. Wir leben die Solidarität, welche die indigenen Völker ursprünglich auszeichnet.»
Den Frauen misst Lourdes eine besondere Rolle im politischen Widerstand in Peru bei: «Als Mütter betrifft es uns besonders. Wir sind besorgt um die Zukunft unserer Kinder; besorgt, ihnen keinen Frieden und keine Ruhe zu hinterlassen.» Viele Frauen seien extrem entschlossen, hinauszugehen und zu kämpfen. Lourdes und ihre Mitstreiter:innen richten den Blick deswegen hoffnungsvoll jenseits der nationalen Grenzen: «Wir müssen uns jetzt den feministischen Kräften anschliessen, denn wir brauchen diese Unterstützung. Und ich wiederhole: es gibt keine Gerechtigkeit. Alle Mächte in unserem Land sind gegen uns.»
In Berlin, wo sie auf ihrer Tour während des feministischen Kampftages am 8. März Halt machte, bekam sie diese Solidarität besonders zu spüren: «Eine riesige Mobilisierung. Mir wurde dort die Gelegenheit gegeben, das Wort zu ergreifen. Und ich habe gesagt, wie wir kämpfen, und sie haben alle zugestimmt. In diesem Moment haben wir diese Kraft gespürt. Die Solidarität und die Schwesternschaft, wenn es darum geht, feministisch zu sein.»
Lourdes befindet sich mittlerweile in Mexiko, von wo aus sie den feministischen Widerstand weiterhin verfolgt und mitorganisiert. Nach Peru kommt sie vorerst nicht. Nachdem sie an einer Kundgebung vor der peruanischen Botschaft in Madrid teilgenommen hatte, erhob der peruanische Botschafter derart schwerwiegende Vorwürfe, dass sie fürchtet, wegen Staatsverleumdung in ihrem Heimatland verhaftet zu werden.
Trotzdem gibt sie die Hoffnung nicht auf: «Die Solidarität ist stark und bringt Träume und Ziele mit sich. Wir wünschen uns, dass unsere Töchter, unsere Söhne umsonst zur Universität gehen können. Eine eigene Universität für Frauen und indigene Völker zu haben, endlich Teil einer qualitativ hochwertigen Ausbildung zu sein, die einem nichts aufgedrängt, die einem nichts vorschreibt und die einem nicht die Geschichte rückwärts erzählt. Wir fordern eine neue Verfassung, die der indigenen Bevölkerung politische Teilhabe zuspricht. Denn wenn wir das nicht tun, werden wir verschwinden. Das Land ist sexistisch, patriarchalisch, rassistisch. Unsere Aufgabe ist es jetzt für Demokratie zu kämpfen.»
14. Juli 2023