Bereits früher war es äusserst beliebt, Fotos an Geburtstagen, Anlässen und auf Reisen zu schiessen. Der Fotoapparat war ein wertvolles Gerät, welches die Fähigkeit besass Momente festzuhalten, Erinnerungen zu konservieren und die Zeit einzufangen, um später, an einem beliebigen Ort, zu einer beliebigen Zeit, die Erinnerungen wieder hervorzurufen.
Im Laufe der Zeit gewann das Fotografieren, wie vieles in dieser Welt, an Geschwindigkeit. Mit der Entwicklung der Smartphone-Kameras wird nicht nur das Fotografieren, sondern auch das Foto einfacher. Im Vergleich zu der analogen Fotografie können Fotos, sofern sie nicht spontan entstehen, beliebig oft geschossen, gelöscht und angeschaut werden. Daraufhin kann das Foto retuschiert und geschmackvoll bearbeitet werden. Ein völlig bewusster Eingriff, um ans ideale Bild zu gelangen.
Mahlzeiten, völlig triviale Momente und Outfits stehen heute im Rampenlicht und unterstützen die Nutzer:innen der sozialen Plattformen sich zu verwirklichen, in Szene zu setzen und eine gewisse «Ästhetik» zu präsentieren. Was ästhetisch schön ist, bestimmen heute die Sozialen Medien. Was bewundernswert, ästhetisch und bewegend ist definierten früher diejenigen, die den Auslöser drückten.
Woher dann der Drang, zu Fotografieren, wenn die schnelle Publikation, wie wir sie heute von Instagram kennen, nicht im Mittelpunkt stand? Spontane Begegnungen, nicht inszenierte Posen. Diane Arbus, eine bedeutsame Fotografin der 60er-Jahren, meinte: «Man sieht jemanden auf der Strasse, und was einem wirklich an ihm auffällt, ist der Defekt».
Wer ihre Bilder kennt, die/der weiss, dass sie sich von Verkrüppeltem, Hässlichem und Subversivem angezogen fühlte. Für von der Gesellschaft ausgeschlossene Menschen hatten und haben ihre Fotos eine unvergessliche Bedeutung. Ihr Ziel war es Unbekanntes zu fotografieren. Unbekannt für wen? Unbekannt für unsere Vorstellungen und für unsere Erwartungen vom Schönen.
Nan Goldin hingegen nimmt ihr eigenes Leben in den Fokus. Eine eiserne Intimität, die sie mit der Welt teilen will. Ihr Leben: Sex, Drogen, Gewalt und alles, was die Gesellschaft ignoriert trotz der brutalen Beständigkeit dieser Themen.
For me it is not a detachment to take a picture. It’s a way of touching somebody – it’s a caress, I think that you can actually give people access to their own soul.
Nan Goldin
Zwei verschiedene Fotografinnen mit einem Zweck: Die Gesellschaftsnorm hinterfragen. Eine Frau konfrontiert uns mit ihrer Realität, die andere ist süchtig nach Begegnungen, die helfen das Auge der Gesellschaft zu öffnen.
Die Fotokamera kann also sowohl als politisches Mittel verwendet werden, darf aber auch als digitales Tagebuch dienen – oder eben auch einfach als Mittel zur Selbstinszenierung.
09. April 2022