Die Sprache und die Worte, die wir dafür benutzen, die sind so eine Sache. Wie wir miteinander kommunizieren, kann einiges über uns als Individuen, aber auch über uns als Gesellschaft aussagen. Anhand der Sprache erkennen wir oft Merkmale einer Person oder Personengruppe. Bildungsgrad, inklusive Denkweise, Alter oder zumindest die Generation, in der eine Person aufgewachsen ist, lassen sich oft durch die Wahl der Worte bestimmen. Einander zu verstehen, ist daher nicht ganz einfach, und sich einander anzupassen dann eben auch nicht. Denn, um etwas zu verändern, das jahrelang als «Norm» gehandhabt wurde, braucht es ein gewisses Verständnis für andere. Dieses Verständnis beruht oft auf den obgenannten Merkmalen, aber auch auf dem eigenen Horizont.
Im Jahr 2022 sollte doch jede:r offen und zukunftsorientiert im Denken und vor allem Sprechen sein, sollte man meinen. Die Debatte rund um die Süssspeise mit Schaumfüllung vor knapp einem Jahr ist das beste Beispiel dafür, wie sehr einige Menschen an gewissen Worten hängen. Worte, die bei Personen mit einer fortschrittlichen und inklusiven Denkweise sowieso gar nichts mehr im eigenen Wortschatz zu suchen haben. Dennoch haftet sich eine erschreckende Anzahl Menschen an Worte, als würde ihr Leben davon abhängen, wenn es doch eigentlich das Leben derer ist, die von Ausdrücken wie diesem, ausgeschlossen oder unterdrückt werden.
Uns hat brennend interessiert, was eine Fachperson zum Thema Sprache zu sagen hat. Wie sehr können wir uns als Menschen und Gesellschaft weiterentwickeln, wenn wir es mit unserer Sprache nicht tun? Prof. Dr. Paul Widmer ist Ord. Professor für Vergleichende Indogermanische Sprachwissenschaft an der Universität Zürich und hat uns einige Einblicke verschafft.
Was hat am meisten Einfluss auf unsere Sprache?
Sprache und Wortschatz werden besonders von konkreten Ereignissen geprägt: Sprecher:innen einer Sprache kommen mit anderen Sprachen in Kontakt, zum Beispiel durch kulturelle Errungenschaften, wie der Schrift oder auch durch Migration auf der Suche nach neuen Lebensgrundlagen. In solchen Kontexten werden Sprecher:innen einer Sprache mit neuen Dingen und Umständen der jeweils anderen Sprache, Kultur und Umwelt konfrontiert. Dabei werden neue Begriffe geprägt oder aus der jeweils anderen Sprache entlehnt. Auch für neue Erfindungen müssen neue Wörter geprägt werden (Internet). Darüber hinaus beeinflussen sich Sprachen längerfristig auch in ihrer Grammatik. In diesem Zeithorizont spielen auch unsere biologischen und physiologischen Voraussetzungen eine wichtige Rolle.
Wir hängen teils so sehr an einzelnen Worten, die nicht mehr zeitgemäss, beleidigend oder sogar diskriminierend sind. Wie können wir uns diese abgewöhnen und wieso tut sich der Mensch teils so schwer damit?
Kulturen und Ansichten wandeln sich meist schneller als die Sprache von Individuen und die Konventionen von Gesellschaften. Für viele einzelne Menschen sind Wörter und Begriffe sehr eng verbunden mit den kulturellen und zeitgeschichtlichen Kontexten und Bedeutungen der Kindheit, in denen sie geprägt wurden. Dass bestimmte Wörter dann unter heutigen Bedingungen von manchen als diskriminierend empfunden werden, ist für Menschen mit ganz anderer Prägung oftmals nur schwer nachvollziehbar, weil sie keine Beleidigung oder Diskriminierung damit assoziieren. Es wird sicher auch immer Diskrepanzen geben, da in einer gemeinsamen Sprache ja auch immer die ganze Diversität der Weltanschauungen aller Sprecher:innen abgebildet wird.
Wie wird sich unser Wortschatz in den nächsten Jahren vergrössern und verändern?
Auch in einer lebendigen Sprache ist nichts so konstant wie der Wandel! Neue Technologien werden die Prägung neuer Wörter und Begriffe notwendig machen, die weltweite Mobilität und Vernetzung wird sicher neues Wissen und neue Kenntnisse mit den entsprechenden Wörtern bringen. Andererseits werden Wörter verschwinden, weil es für sie keine Verwendungskontexte mehr gibt. Es wissen heute wahrscheinlich nur noch wenige Sprecher:innen des Schweizerdeutschen, welches Objekt genau hinter dem legendären Zungenbrecher «Miuchmäuchterli» (Melkeimer) steckt.
Wie sieht’s aus mit der Grammatik? Wie sehr entwickeln wir uns in diesem Bereich und brauchen wir diese Entwicklung überhaupt?
Auch die Grammatik der gesprochenen Sprache verändert sich dauernd, aber sicher insgesamt langsamer als der Wortschatz. Eine normierte, meist geschriebene Sprachform wird es dabei wahrscheinlich immer geben, da sie auch der verbindlichen Kommunikation dient. Für die Formulierung und Interpretation von Gesetzestexten oder Gebrauchsanweisungen zum Beispiel ist es sehr hilfreich, sich einer möglichst einheitlichen Sprachnorm bedienen zu können, die sich nicht dauernd ändert. Ob wir diese Normen behalten, weiterentwickeln und brauchen wollen oder nicht, bestimmen gesamtgesellschaftliche Entscheidungsprozesse.
Sollten wir uns Ihrer Meinung nach mehr für unsere Sprache sensibilisieren?
Ein verantwortungsvoller und angemessener Umgang mit allen Menschen und Meinungen in ihrer ganzen Diversität auf den Grundlagen unserer Kultur und Verfassung ist für mich eine Selbstverständlichkeit. Persönlich halte ich dabei nicht allzuviel von Symbolik als Selbstzweck. Taten und Verhaltensweisen sind für mich relevant. Was nützt es jemandem, wenn ich schreckliche Dinge tue und diese in neutraler Sprache beschreibe?
Wie wichtig ist die Evolution der Sprache für die Menschheit?
In der Geschichte der Menschheit war die Entwicklung ihrer speziellen Sprachfähigkeit ein zentrales Ereignis, das ihr grosse Vorteile gegenüber anderen Spezies verschafft hat. Auch in Zukunft wird die stetige Weiterentwicklung wichtig sein: Nur mit einer Sprache, die den Gegebenheiten angepasst ist, können wir Vergangenes, Aktuelles und Zukünftiges reflektieren, diskutieren und planen.
13. März 2022