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Die übersehenen Frauen aus dem Autismus-Spektrum haben gelernt sich anzupassen 

Das Bild vom Autismus, geprägt durch Medien und Wissenschaft, war lange männlich. Mädchen und Frauen wurden stets übersehen: Jedoch nicht, weil weibliche Personen mit autistischen Ausprägungen und Besonderheiten eine Seltenheit sind, sondern weil sie sich angewöhnt haben, ihr neurodivergentes Selbst mit so genanntem «Masking» zu überdecken. Ein hilfreiches, aber kräftezehrendes Performen, um in der Gesellschaft klarzukommen.

Von Janine Friedrich

*Als neurodivergent werden Menschen bezeichnet, deren Denk- und Wahrnehmungsmuster «von der gesellschaftlichen Norm» (neurotypisch) abweichen und deren Reizverarbeitung anders funktioniert.

Frag einhundert Frauen aus dem Autismus-Spektrum, wie sie die Welt erleben, und du wirst einhundert verschiedene Antworten bekommen. Es gibt mittlerweile viele Informationen und Aufklärung darüber, wie vielfältig sich Autismus bei weiblichen Personen manifestieren kann: von hochintelligenten nonverbalen Autistinnen über extrovertierte autistische Frauen, die trotzdem mit Reizüberflutung oder sozialer Unsicherheit kämpfen, bis hin zu hochmaskierenden Frauen mit einer späten Diagnose im Erwachsenenalter. Bei Letzteren bleiben die inneren Konflikte durch das gute und antrainierte Überspielen der eigenen autistischen Merkmale für die Aussenwelt jedoch meist unsichtbar. Bevor es nun mehr um die anstrengende Aufrechterhaltung der Maske von übersehenen Frauen geht, vorab ein notwendiges Aus-dem-Weg-räumen von Vorurteilen:

Noch immer besteht viel Unklarheit darüber, was Autismus überhaupt ist. Fakt ist (und das gilt für alle Geschlechter): Autismus ist keine Krankheit, sondern eine Art zu sein, ein Naturell. Menschen im Autismus-Spektrum haben ein alternatives Gehirndesign und eine andere Art der Wahrnehmungsverarbeitung. Der Begriff «Autismus» kommt ursprünglich aus dem Griechischen und bedeutet «sehr auf sich bezogen sein». Leo Kanner und Hans Asperger haben ihn 1943/1944 erstmals für Kinder mit tiefgreifenden Entwicklungsproblemen verwendet. In der aktuellen Version der internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD-11) wird der Begriff «Autismus-Spektrum-Störung» (kurz: ASS) genutzt, wobei von Symptomen und Schwächen die Rede ist. Obwohl diese Bezeichnung weltweit anerkannt ist, verstärkt das Wort «Störung» nach wie vor die ohnehin oft negative Wahrnehmung autistischer Neurobiologie. Dabei ist die komplexere Verdrahtung des Gehirns von Menschen im Autismus-Spektrum weder besser noch schlechter als die eines Durchschnittsmenschen – sie ist einfach anders.

Viele wehren sich berechtigterweise gegen das negativ geprägte Bild von Autismus und sprengen immer öfter die Schublade der «sozial unbeholfenen Menschen mit Defiziten». Zahlreiche persönliche Erfahrungsberichte verdeutlichen heutzutage mehr und mehr, wie individuell autistische Frauen ihr Leben gestalten und dabei ihre Stärken und Besonderheiten nutzen. Autistische Merkmale sind je nach Intensität – und entgegen weit verbreiteter Vorstellung – nämlich nicht zwangsläufig negativ oder beeinträchtigend. Problematisch ist vielmehr, dass es in der Gesellschaft oft an Raum fehlt, um neurodivergente Menschen zu bestärken und ihnen ein authentisches Leben nach ihren Bedürfnissen zu ermöglichen.

Autistische Merkmale lassen sich in zwei Hauptgruppen einteilen: 

Soziale Anzeichen: eine geringe soziale Motivation, Schwierigkeiten mit sozialer Interaktion, Besonderheiten in Mimik und Gestik, Vermeiden von Blickkontakt, Herausforderungen im Umgang mit sozialen Konzepten, kein Verständnis für unterschiedliche Tonfälle wie Sarkasmus/Ironie etc.

Nicht-soziale Anzeichen: stark ausgeprägte Interessen, repetitive Verhaltensweisen, Schwierigkeiten bei Veränderungen der Routinen/Planänderungen, eine ausgeprägte Detailwahrnehmung sowie sensorische Überempfindlichkeiten gegenüber Gerüchen, Geräuschen oder visuellen Reizen etc.

Für eine Autismus-Diagnose müssen in beiden Bereichen deutliche Auffälligkeiten vorliegen. Da es trotz gewisser Gemeinsamkeiten sehr grosse persönliche Unterschiede zwischen autistischen Personen gibt, spricht man von einem Spektrum. Menschen im Autismus-Spektrum sind also genauso individuell wie nicht-autistische Personen. Auch die Ausprägung der Merkmale kann variieren und sich sogar im Laufe der Jahre verändern. Auch Überschneidungen mit ADHS, Synästhesie, Hochbegabung oder weiteren Varianten aus dem Konzept der Neurodivergenz sind möglich. Bei stark ausgeprägten Anzeichen kann bereits im Alter von zwei bis drei Jahren bestimmt werden, dass eine Person zum Autismus-Spektrum zählt. Weniger deutliche Anzeichen fallen den Personen selbst oder ihrem Umfeld erst viel später auf. So kommt die Diagnose – wenn überhaupt – erst im (jungen) Erwachsenenalter und bei Frauen generell viel später als bei Männern.

Aus diesem Grund verbringen in das Spektrum fallende Mädchen und Frauen Jahre oder sogar Jahrzehnte damit, ihre autistischen Merkmale entweder bewusst oder unbewusst hinter sozialen Masken zu verstecken und zu unterdrücken. Sie lernen früh, wie das sogenannte «Masking» funktioniert und wie das «Schlüpfen in verschiedene Rollen» hilft, um in einer neurotypischen Gesellschaft klarzukommen und den typisch-autistischen Herausforderungen aus dem Weg zu gehen. Lieber unauffällig verhalten und das soziale Skript imitieren, um gesellschaftliche Erwartungen zu erfüllen. Doch diese typische Coping-Strategie von Frauen führt dazu, dass ihre autistischen Ausprägungen als soziale Ängstlichkeit, Schüchternheit, eine erhöhte Sensibilität und Introvertiertheit fehlinterpretiert oder gar nicht erkannt werden. Jungen und Männer hingegen werden gerade wegen ihres auffälligen Verhaltens diagnostiziert. Es ist nicht verwunderlich, dass dieses ständige Performen und «normal wirken» der hochmaskierenden Frauen viel Kraft kostet. Noch dazu verliert man sich selbst. Langfristig können diese Bewältigungsstrategien deshalb zu mentaler und physischer Erschöpfung, Angststörungen und Identitätskrisen führen. Dieser Punkt wird oft dann erreicht, wenn das Maskieren nicht mehr aufrechterhalten werden kann oder sogar bewusst abgelegt wird.

Nach einer solchen Vermutung oder persönlichen Erkenntnis kommen zunächst viele Fragen: Wer bin ich ohne soziale Maske? Was passiert, wenn ich mein natürliches Verhalten nicht mehr den sozialen Normen entsprechend überspiele und es in Kauf nehme, komisch rüberzukommen? Will ich eine richtige Diagnose? Wenn ja, inwiefern würde es mir helfen? Wenn nein, was hält mich davon ab? Ist es der ganze Aufwand oder sind es vielmehr die negativen Vorurteile der Gesellschaft, die ich mir dadurch selbst aufdrücken würde? Kann ich dennoch selbstbewusst in den Vordergrund stellen, dass meine individuellen autistischen Ausprägungen eine Superkraft sind? Wie kann ich mein Leben ohne «Masking» neu ausrichten und lernen, mich selbst besser zu verstehen? Wie kann ich meine Bedürfnisse und Grenzen wahren und dabei authentisch bleiben? Und ist es okay, wenn ich die Maske in gewissen Situationen bewusst beibehalten will, weil es für mich komfortabler und einfacher ist? Was, wenn mich all das gerade überfordert?

Auch auf all diese Fragen hätten einhundert Frauen aus dem Autismus-Spektrum einhundert verschiedene Antworten. Es gibt viele Optionen und viele Wege, mit der eigenen Neurodivergenz umzugehen. Falsch gibt es nicht. Vielen autistischen Frauen hilft es, sich bei der langsamen Demaskierung auf ihre Spezialinteressen und intensiven Leidenschaften für bestimmte Themen oder Hobbys zu fokussieren. Bei Greta Thunberg ist es der Klimaschutz-Aktivismus, bei Temple Grandin ihre Faszination für Tierwissenschaft und Ingenieurwesen und die australische Comedian Hannah Gadsby liebt alles rund um Kunstgeschichte. Diese Leidenschaften dienen oft als Gegengewicht zur sozialen Anpassung und helfen dabei, die eigene Authentizität zu stärken.

Es gäbe noch so viel mehr zu sagen. Am wichtigsten ist, dass neurodivergente Menschen in unserer Gesellschaft endlich uneingeschränkt und bedingungslos akzeptiert werden, so wie sie sind.

Alle möglichen Informationen für Menschen, die auf dem Autismus-Spektrum sind, es vermuten oder jemanden im Verwandten- oder Bekanntenkreis haben, gibt es bei «autismus schweiz» unter: www.autismus.ch 

03. Februar 2025

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