Zu Jahresbeginn ziehe ich mit fast 29 Jahren aufgrund einer Veränderung meiner Lebenssituation wieder bei meinen Eltern ein. Die Jobsuche verläuft schleppend, das Schreiben fällt mir schwer – stattdessen verliere ich mich im Doomscrolling auf Instagram. Eine Blockade, die nicht nur mein Schreiben, sondern auch mein Handeln lähmt. Wie findet man in Momenten des Scheiterns die Kraft zurück und wird wieder handlungsfähig?
Marina Abramović im Kunsthaus Zürich
Bewusstsein, Digital Detox, Achtsamkeit – Begriffe, die heute viel Aufmerksamkeit finden – eine Tendenz, die sich auch in der Retrospektive von Marina Abramović im Kunsthaus Zürich widerspiegelt. Die Ausstellung zieht grosse Menschenmengen an und präsentiert Werke aus allen Schaffensperioden der Künstlerin, darunter auch Reinszenierungen historischer Performances. Besonders im Fokus stehen dabei ihre «Long-durational Performances», die physische und mentale Grenzen ausloten und Besucher*innen einladen, Achtsamkeit und Selbstwahrnehmung selbst neu zu erfahren. Schon der Eintritt stellt für manche eine Herausforderung dar: Um in die Ausstellung zu gelangen, muss man zwischen zwei nackten Personen hindurchgehen – eine Erfahrung, die Unbehagen auslösen kann. Mein Fokus liegt darauf, niemanden zu berühren, niemandem auf die Füsse zu treten und vor allem: niemandem in die Augen zu schauen.
Marina Abramović als Körperkünstlerin
Jedoch ist genau diese Bewusstmachung des eigenen Körpers Abramovićs Ziel. 1946 in Belgrad geboren, beschäftigt sie sich seit Jahrzehnten mit der Kunst des Aushaltens. Ihr Körper wird zu ihrem Medium, dem sie immer wieder extreme Belastungen aussetzt – er wird zur Leinwand ihrer Kunst. Berühmt wurde sie unter anderem durch ihre Performance «Rhythm 0» (1974), in der sie sich sechs Stunden lang dem Publikum auslieferte. Vor ihr ein Tisch mit 72 Objekten – harmlosen wie gefährlichen. Die Besucher*innen durften frei entscheiden, wie sie diese einsetzten. Sie schnitten ihre Kleidung auf, drückten Dornen in ihren Bauch, richteten sogar eine geladene Pistole auf sie. Als Abramović sich am Ende der Performance bewegte, flohen die Menschen. Die Konfrontation mit den eigenen Handlungen war unerträglich. 1997 schrubbte sie während der Biennale in Venedig stundenlang unter quälendem Gestank blutige Rinderknochen. 2002 verbrachte sie für die Performance «The House with Ocean View» zwölf Tage in einer Galerie – ohne Essen, nur mit Wasser, während das Publikum sie dabei beobachtete. Diese Überschreitung von Grenzen, um durch Schmerz und Entsagung eine Art Transzendenz zu erleben, ist von weltweiten asketischen Traditionen inspiriert und zieht sich durch ihre gesamte Arbeit. Was in der ursprünglichen Tradition eine einsame Beschäftigung war, wurde zunehmend eine Einladung an das Publikum, Teil dieses Prozesses zu werden. So sass Abramović 2010 für «The Artist is Present» 720 Stunden im Museum of Modern Art (MoMA) und lud Besucher*innen ein, ihr gegenüber Platz zu nehmen. Über 800’000 Menschen nahmen teil, manche weinten, andere lachten, viele versanken in sich selbst. Abramović wurde zur Projektionsfläche für die Emotionen der Menschen.
Die Marina Abramović Methode: Ein Selbstexperiment

Mit «The Artist is Present» wurde Marina Abramović nicht nur zur Ikone der Performance-Kunst, sondern auch zu einer Marke. Ihre einst radikalen Methoden sind längst in der Popkultur angekommen – gefeiert in Lifestyle-Magazinen und von Prominenten wie Jay-Z oder Shia LaBeouf adaptiert. Doch dieser Erfolg bleibt nicht ohne Kritik: Ist das noch Kunst oder geschickte Selbstvermarktung?
Auch die Vermarktung der Abramović-Methode trägt zu dieser Diskussion bei. Eine Ausformung davon ist etwa «Cleaning the House», ein fünftägiges Retreat in einem Landhaus in Griechenland, das Konzentration und Achtsamkeit trainieren soll – für stolze 2450 Euro, ganz ohne Anwesenheit der Künstlerin. Ein weiteres Produkt dieser Vermarktung entdecke ich nach der Ausstellung im Museumsshop: ein Kartenset mit dem Namen «Die Marina Abramović Methode». Es soll Konzentration, Selbstdisziplin und Achtsamkeit fördern. Ein Werkzeug für mentale Stärke oder nur ein cleverer Marketing-Gag? Die Box, die ich für etwa 30 Franken kaufe, enthält 30 Karten mit Aufgaben, die von skurril – «Mit einem Spiegel rückwärts gehen» – bis herausfordernd reichen, wie «Eine Tür öffnen und schliessen – für eine bis drei Stunden». Viele der Übungen erinnern an Abramovićs Performances, etwa «Counting the Rice» (2014), bei der man «jedes Reiskorn zählen muss».
Ich beschliesse, das Experiment selbst zu wagen. Einen Monat lang ziehe ich täglich eine Karte und folge der Anweisung. In einer Welt, die kaum zur Ruhe kommt und in der unsere Aufmerksamkeit von den sozialen Medien zersplittert wird, fühlt sich dieses Experiment fast wie eine kleine Rebellion an. Doch in eben dieser Gesellschaft, in der alles sofort konsumiert, dokumentiert und geteilt wird, bleibt die Frage: Ist es noch die Kunst, die uns zu tiefer Achtsamkeit, Kontrolle und Ausdauer führt – oder wird sie nur noch zu einem weiteren visuellen Produkt in der flimmernden Galerie sozialer Netzwerke? Und wie kann eine tiefgreifende Erfahrung in einer Welt, die auf sofortige Befriedigung ausgerichtet ist, wirklich erlebt werden?
Da 30 Aufgaben unsere Konzentrationsspanne sprengen würden(…), widme ich mich hier sieben ausgewählten Herausforderungen.

Tag 1
Der erste Montag nach dem Museumsbesuch. Ich ziehe die erste Karte und lese darauf:
Finden Sie einen Gegenstand, den Sie lieben. Finden Sie einen Gegenstand, den Sie hassen. Schreiben Sie über beide, ohne den Text zu bearbeiten.
Eine Herausforderung, denn meine persönlichen Dinge sind noch in einer anderen Stadt. Schliesslich entdecke ich ein Kissen im Gästezimmer, in dem ich derzeit wohne: pink, mit kleinen, gekrönten Häschen… Mehr muss ich dazu gar nicht sagen. Der einzige Gegenstand in diesem Haus, der mir gehört, ist eine Streichholzschachtel aus Sils Maria mit einem Deckel aus Keramik, darauf der «Schellenursli», eine meiner liebsten Kindheitsgeschichten. Jedes Mal, wenn ich damit eine Kerze anzünde, fühlt sich dieser Ort ein kleines Stück mehr wie Zuhause an.
Tag 5
Abramović empfiehlt für heute:
Stehen Sie um 6 Uhr auf und gehen Sie nach draussen. Spüren Sie den Boden unter Ihren Füssen. Falls gesetzlich erlaubt, tun Sie dies nackt.
Auf die Nacktheit verzichte ich – meine Eltern und deren Nachbarn wären wohl wenig begeistert. Stattdessen gehe ich barfuss hinaus. Es ist dunkel, eiskalt, aber diese klare Aufgabe gibt mir Struktur. Ich spüre den noch gefrorenen Rasen unter meinen Füssen und geniesse die Stille des Morgens. Es elektrisiert mich. Später sitze ich wieder an meinen Bewerbungen – genauso frustrierend wie vorher. Doch immerhin beginnt der Tag anders als sonst.
Tag 7
Drei Vorstellungsgespräche liegen hinter mir – vermutlich nicht wegen der Abramović-Methode, sondern dank meiner Bewerbungen. Aber ich schreibe wieder flüssiger und mein Alltag hat Struktur – die digitale Welt erscheint mir immer unwichtiger, was auch an den politischen Umständen liegt (yikes). Die Aufgaben verleihen den Tagen eine seltsame Sinnhaftigkeit, auch wenn sie oft trivial erscheinen. Heute steht auf meiner Karte:
Schütten Sie einem Baum Ihr Herz aus. Wählen Sie einen Baum, den Sie mögen. Umarmen Sie ihn. Erzählen Sie ihm, was Sie bedrückt.
Also gehe ich in den Wald, finde einen Baum abseits der Wege und beginne zu sprechen. Es fühlt sich merkwürdig an, als würde ich der Natur meine Sorgen aufdrücken. Fast höre ich den Baum seufzen: «Menschen… so privilegiert und trotzdem am Jammern.» Ich verstumme. Der Baum hat recht. Es gibt Schlimmeres im Leben.
Tag 12
Heute fordert die Aufgabe eine Stunde meiner Zeit:
Gehen Sie mit einem Spiegel rückwärts. Suchen Sie sich einen Ort unter freiem Himmel, an dem Sie gefahrlos eine bis drei Stunden rückwärtsgehen können. Halten Sie sich einen kleinen Handspiegel vor das Gesicht, sodass Sie einen Teil Ihres Gesichts und den Weg hinter Ihnen sehen. Bewegen Sie sich nur mithilfe des Spiegels.
Ich schaffe keine Stunde. Diese Langzeit-Performances lassen sich schwer in meinen Alltag integrieren. Ständig stolpere ich über meine eigenen Füsse – eine Erinnerung an meine Kindheit und meine damaligen zwei linken Füsse. Besonders geschickt war ich nie, aber wenigstens kann ich mittlerweile geradeaus gehen. Abramović zwingt einen, sich des eigenen Körpers unangenehm bewusst zu werden. Umso dankbarer bin ich danach, einfach normal laufen zu können – wie eine erwachsene Person. Das Leben mit fast 29 bei den Eltern genügt irgendwie auch schon als Herausforderung.

Tag 17
Heute riskiere ich beinahe eine Blasenentzündung – dank Femmanose, kommt es nicht dazu. Die Aufgabe:
Schwimmen Sie in einem eiskalten Gewässer. Suchen Sie das kälteste natürliche Gewässer in Ihrer Nähe, in dem Schwimmen erlaubt ist. Entkleiden Sie sich vollständig oder tragen Sie Unterwäsche. Bleiben Sie drei Minuten im Wasser.
Was hat Abramović eigentlich gegen Badeanzüge? Eisbaden also – ein weiterer Social-Media-Trend, den alle anders interpretieren. Drei Minuten erscheinen mir jedoch endlos. Es ist Januar, und der Hedinger Weiher könnte kaum kälter sein. Der Adrenalinrausch danach ist grandios, die Kälte, die mich den ganzen Tag begleitet, eher weniger. Trotzdem: Ich fühle mich, als hätte ich etwas Grosses geleistet – obwohl ich eigentlich nur drei Minuten gezittert und mit den Zähnen geklappert habe.
Tag 21
Heute fühle ich mich wie Aschenputtel und komme mir zunächst etwas lächerlich vor:
Mischen Sie ungekochten Reis und Linsen. Verpflichten Sie sich, die gesamte Menge zu zählen. Trennen Sie Reis und Linsen und zählen Sie dann jedes Reiskorn und jede Linse. Notieren Sie die genaue Anzahl.
Mir ist klar, dass es bei dieser Aufgabe um Transzendenz geht. Durch monotone Wiederholungen soll man in einen meditativen Zustand gelangen. Wie lange dauert es, bis der Geist abschaltet? Tatsächlich funktioniert es bei dieser Aufgabe am ehesten. Während ich Reiskorn für Reiskorn zähle, vergeht die Zeit – und irgendwann ist sie egal. Ich hätte den ganzen Tag weitermachen können, wenn ich nicht noch Bewerbungen schreiben und Wohnungen suchen müsste.
Tag 30 – Fazit über meinen Stand auf dem Boden
Heute strecke ich mich, als wäre es das erste Mal. Das ist meine letzte Aufgabe von Abramović.
Strecken Sie sich, als wäre es das erste Mal. Legen Sie sich auf den Rücken, strecken Sie sich und gähnen Sie genüsslich wie morgens nach dem Aufwachen. Wiederholen Sie die Bewegungen, die Ihr Körper sich wünscht.
Der erste Monat des Jahres ist vorüber. Viele Vorsätze kann ich schon jetzt nicht einhalten und die Abramović-Methode ist sicherlich kein Allheilmittel. Sie hat mir nicht den perfekten Job beschert – das habe ich letztlich (endlich) ganz allein geschafft. Aber sie hat mich zurück ins Schreiben gebracht, mir Struktur gegeben und mich achtsamer für mein eigenes Tun gemacht. Ob die Abramović-Methode eine künstlerische Revolution oder geschicktes Marketing ist, bleibt Ansichtssache. Wie in ihrer gesamten Praxis verschwimmen auch hier die Grenzen zwischen Beobachter*in und Beobachtetem, zwischen Kunst und Alltag. Das Publikum wird Teil der Performance – und mit dem Kartenset haben nun alle die Möglichkeit, selbst zu Performer*innen zu werden, eventuell Transzendenz zu erleben und Kontrolle abzugeben. Vielleicht sollten wir uns eher fragen, warum wir ein Kartenset, ein Retreat oder teure Workshops brauchen, um wieder Achtsamkeit zu finden. Für den Moment hat mir die Abramović-Methode jedenfalls geholfen, ein bisschen fester auf dem Boden zu stehen. Und vielleicht reicht das schon.
Die Retrospektive von Marina Abramović ist noch bis zum 16. Februar im Kunsthaus zu sehen – am 14. und am 15. Februar hat sie eine Sonderöffnungszeit bis 22 Uhr.
«Die Marina Abramović Methode» gibt es im Museumsshop des Kunsthauses zu kaufen oder ist für ca. 30 Franken online bestellbar.
09. Februar 2025