Dr. Jasmine Abdulcadir ist leitende Ärztin für Gynäkologie, Geburtshelferin auf der Notfallstation und hat zudem die Ambulanz für beschnittene Mädchen und Frauen in der Genfer Universitätsklinik (HUG) eingerichtet. Neben Prävention und Beratung bietet sie hier zusammen mit einer geschulten Hebamme kultursensible, klinische, chirurgische und psychosexuelle Betreuung für Mädchen und Frauen an, die FGM/C* erlebt haben. Zu ihr in die Klinik kommen die Patientinnen aus eigener Entscheidung. In 30% der Fälle haben sie einen zertifizierten Dolmetscher dabei, um mögliche Sprachbarrieren zu überwinden. Abdulcadir gibt ausserdem nationale und internationale Schulungen zur Verbesserung der reproduktiven und sexuellen Gesundheit der Mädchen und Frauen und hat bereits eine Vielzahl an wissenschaftlichen Arbeiten dazu verfasst. Sie ist weiterhin Beraterin beim Schweizer Netzwerk gegen weibliche Beschneidung.
Schon seit vielen Jahren forscht die Gynäkologin auf diesem Gebiet, erlernte die rekonstruktive Operation und setzt sich unermüdlich für die Rechte und Heilung der Mädchen und Frauen ein. Ihre Eltern, ebenfalls beides Gynäkologen, waren schon früh Pioniere in diesem Bereich und haben ebenfalls viel Aufklärungsarbeit geleistet. Da ihr Vater aus Somalia stammt – einem Land, in dem die weibliche Beschneidungsrate bei circa 90 Prozent liegt – wuchs die junge Expertin mit den Erfahrungen von Familienmitgliedern oder Bekannten auf und kann dadurch heute die wichtige, kulturelle Perspektive in ihre medizinische Arbeit mit einbringen.
Dr. Jasmine Abdulcadir
Leitende Ärztin für Gynäkologie, Geburtshelferin
*Je nach Region und praktizierender Gemeinschaft variiert die Art der Beschneidung. Die WHO unterscheidet vier Formen:
- Typ I (Beschneidung der Klitoris): Teilweise Entfernung oder Beschneidung des äusseren Teils der Klitoris und/oder der Klitorisvorhaut.
- Typ II (Exzision): Teilweise oder vollständige Entfernung des äusseren Teils der Klitoris und der inneren Venuslippen mit oder ohne Entfernung der äusseren Venuslippen.
- Typ III (Infibulation): Verengung der vaginalen Öffnung durch die Entfernung der äusseren und/oder inneren Venuslippen (ggf. mit Beschneidung oder teilweiser Entfernung des äusseren Teils der Klitoris) und das anschliessende Zusammennähen der Wunde.
- Typ IV : Alle anderen Formen, welche die weiblichen Genitalien aus nicht medizinischen Gründen schädigen.
Welche Herausforderungen gibt es auf dem Gebiet und wie kann man diese überwinden?
Jasmine Abdulcadir: Die grösste Herausforderung besteht darin, die Sensibilität für ein Thema zu verbessern, das immer noch tabu ist. FGM/C ist eine empfindsame Angelegenheit, die gleich mehrere problematische Aspekte berührt: Es betrifft zunächst Frauen – oft Women of Color, häufig Migrantinnen und manchmal Muslimas. Ausserdem geht es um Gewalt, Sexualität, Geschlechtergerechtigkeit sowie sehr intime Gefühle und Erfahrungen. Wird darüber gesprochen, löst es bei vielen eine Schockreaktion und natürlich Mitleid aus. Doch es ist wichtig, darüber hinauszugehen und zu lernen, wie man das Thema kommuniziert und wie man Menschen dazu bewegt, sich damit auseinanderzusetzen.
Als medizinische Fachkraft muss man lernen, wie man Frauen und Mädchen, die beschnitten wurden, richtig behandelt und eine korrekte Diagnose stellt. Dabei gilt es vor allem, bestimmte Stigmata gegenüber Patientinnen zu vermeiden, kompetent und professionell zu sein und die Rechte der Patientinnen stets zu respektieren. Eine weitere Herausforderung ist, über die vielen weit verbreiteten unsachlichen, nicht-inklusiven und unzutreffenden Informationen über FGM/C aufzuklären – auch in den praktizierenden Gemeinschaften, in denen das Thema oft totgeschwiegen wird. Es gibt zum Beispiel viele falsche Vorstellungen darüber, wie die Vulva ohne Beschneidung oder nach einer rekonstruierenden Operation aussieht. Deshalb arbeiten wir in der Klinik mit 3-D-Modellen, um die Anatomie genau zu erklären, mit und ohne Beschneidung.
Wie definieren Sie ganzheitliche Heilung im Kontext von FGM/C?
Ganzheitliche Heilung hat das Ziel, dass sich die Person körperlich, emotional, mental, sexuell und auch sozial wohlfühlt. Daher sollte man sich nicht nur auf die Genitalien konzentrieren. Natürlich, wenn es Komplikationen oder Schmerzen im Genitalbereich gibt, behandelt man diese zuerst. Dennoch liegt der Fokus nicht nur auf der Anatomie, sondern man behandelt den Menschen als Ganzes. Das ist wichtig, da die physische Narbe der Beschneidung nicht unbedingt im Verhältnis zu den vorhandenen Komplikationen oder Folgen steht. Viele Frauen kommen mit Begleitsymptomen wie zum Beispiel Harnwegsinfektionen, Schmerzen beim Geschlechtsverkehr, einer Vorgeschichte von Dammverletzungen oder Narbenproblemen wie Neurome oder Zysten. Darüber hinaus haben etwa ein Drittel unserer Patientinnen noch andere schwierige Lebensereignisse erfahren. Daher ist es extrem wichtig, sowohl die Symptome im Zusammenhang mit der Genitalbeschneidung als auch alle anderen Aspekte ganzheitlich anzugehen und zu behandeln.
Welche medizinischen Heilungsmöglichkeiten stehen Frauen zur Verfügung?
Ich denke, das Wichtigste ist, den Zugang zu Informationen zu ermöglichen; zunächst durch Beratung und sexuelle Aufklärung. Oft wissen die Frauen nicht, ob sie beschnitten wurden oder welche Art der Beschneidung sie hatten, oder ob zum Beispiel ein Problem beim Wasserlassen daherrührt oder nicht. Wir können all das gut behandeln; ob Schmerzen, Harnwegskomplikationen, Narben, Juckreiz oder Infektionen. Weiterhin gibt es Physiotherapie, Sexualtherapie und Psychotherapie. Je nach Art der Beschneidung sind auch chirurgische Eingriffe möglich. Die meisten Personen, die in unsere Klinik kommen, haben Typ II oder III. Jüngere Generationen haben oft weniger invasive Formen als ältere Generationen. Es hängt auch stark von der ethnischen Zugehörigkeit ab. Bei einer Infibulation (Typ III) können wir eine Defibulation durchführen, also die Wiederöffnung mit Rekonstruktion der Vulvalippen. Dann gibt es die Klitoris-Operation, bei der die Narbe entfernt und der unter der Narbe verborgene Körper der Klitoris freigelegt wird. Dadurch kann der Kitzler in eine sichtbarere und zugänglichere Position gebracht werden.
Und wie sieht es auf emotionaler Ebene mit der Vergangenheitsbewältigung aus?
Es kommt ganz darauf an. In der Klinik haben wir eine sehr diverse Patientinnengruppe, verschiedene Altersstufen und Herkunftsländer, alle mit unterschiedlichen Lebensgeschichten. Manche Patientinnen wurden sehr jung beschnitten, als Neugeborene, und andere im Alter von 12 Jahren. Die Erinnerungen, Erfahrungen, Komplikationen und Emotionen sind daher extrem unterschiedlich, ebenso wie die Bedingungen der weiblichen Genitalbeschneidungen: Bei einigen passierte es unter Anästhesie im Krankenhaus, doch bei den meisten in ländlichen Gegenden unter sehr unvorteilhaften Voraussetzungen. FGM/C ist ein traumatisches Ereignis, aber es gibt verschiedene Bewältigungsstrategien, um damit umzugehen.
Einige Frauen haben gelernt, die Vergangenheit hinzunehmen, und fühlen sich wohl, während andere eine Traumaversorgung (zum Beispiel EMDR-Therapie) benötigen. Ein Drittel unserer Patientinnen hat neben der FGM/C auch andere Gewalterfahrungen gemacht, wie Krieg, Vergewaltigung, Zwangsheirat oder Migration mit sehr schwierigen Lebensbedingungen. Um die umfassende Heilung zu fördern, müssen auch diese Aspekte angegangen werden. Bei Bedarf muss die emotionale Heilung also all diese Dimensionen ansprechen, aber nicht unbedingt gleichzeitig. Es gibt unterschiedliche Prioritäten im Heilungsprozess. Vielleicht braucht eine Frau zuerst ein Haus oder einen Job und kann dann erst über eine Operation oder Physiotherapie nachdenken. Es ist definitiv möglich, zu heilen oder sich besser zu fühlen. Einer der ersten Schritte im Heilungsprozess besteht darin, darüber zu sprechen und sich dessen bewusst zu werden.
Die Erfahrungen mit der Heilung sind demnach auch sehr vielfältig?
Ja, jede Frau findet ihren eigenen Weg. Das lässt sich nicht verallgemeinern. Wir haben Patientinnen, die mit ihrer Mutter oder Grossmutter sprechen können und dabei verschiedene Dinge verstehen. Einige machen Psychotherapie oder sagen sich einfach, dass es normal war, dass FGM oder FGC bei allen Mädchen gemacht wurde. Andere Patientinnen fühlen Hass oder Wut und fragen sich: «Wie konnte meine Mutter das zulassen?» Ob Akzeptanz oder Nichtakzeptanz – die Bewältigungsstrategien sind von Person zu Person sehr unterschiedlich. Einige erinnern sich an die dazugehörige Feier mit Stolz und Ehrenhaftigkeit, andere an das Gefühl der Angst, des Verrats oder an den Geruch von Blut. Wieder andere sagen: «Ich verstehe meine Mutter, sie war jung, alle haben ihr gesagt, dass es richtig ist. Hätte sie es bei mir nicht machen lassen, wäre ich komplett ausgeschlossen worden. Ich stimme zwar nicht mit ihrer Entscheidung überein, aber ich verstehe es.» Für einige Patientinnen gibt es auch ein Gefühl der Versöhnung und sie sagen: «Okay, ich wurde beschnitten und ich bin geheilt. Ich funktioniere jetzt gut.» All diese verschiedenen Emotionen, die Mädchen und Frauen nach dieser Erfahrung fühlen, sind gültig. Wir Gesundheitsfachleute müssen uns die Geschichten der einzelnen Personen einfach anhören und bei Bedarf entsprechende Lösungen, Zeit und Unterstützung anbieten.
Absolut – und man darf auch die Komplexität dieser Tradition nicht ausser Acht lassen, oder?
Genau. Dazu gibt es interessante soziologische und psychologische Studien: Es betrifft nämlich weitaus mehr Menschen als nur die Tochter selbst und ihre Mutter, Grossmutter oder Beschneiderin. Es ist ein verflochtenes gemeinschaftliches und soziales System mit verschiedenen Mechanismen, die diese Praxis aufrechterhalten. Zum Beispiel gibt es Mechanismen, die dazu führen, dass generell nicht über Komplikationen von FGM/C gesprochen wird. Oft ist es auch so, dass die Mutter während der Beschneidung bei der Tochter nicht anwesend ist, weil es die traumatischen Erinnerungen ihrer eigenen Beschneidung triggern könnte. So bleibt die Tradition erhalten und die Traumata werden von Generation zu Generation weitergegeben und irgendwie bewältigt. Es ist komplex, genau wie die verschiedenen Begründungen für FGM/C: Praktizierende Gemeinschaften sehen diese Praxis als tief verankerte Tradition, die Jungfräulichkeit, Treue, Reinheit, Schönheit und soziale Zugehörigkeit vor der Ehe sicherstellen soll. Religiöse Überzeugungen, kulturelle Identität und die Kontrolle der weiblichen Sexualität können ebenfalls eine Rolle spielen.
Wie kann eine positive sexuelle Wiederentdeckung gefördert werden?
Hauptsächlich durch Bildung. Diese Bildung muss kulturell informiert, traumasensibel und an die Person, mit der man arbeitet, angepasst sein. Dabei müssen biologische, psychologische, soziale und Beziehungsaspekte angesprochen werden – wie in der Sexualmedizin für alle Personen. Doch manchmal braucht es gar keine Wiederentdeckung der eigenen Sexualität. Es gibt auch beschnittene Frauen, die ein erfülltes und genussvolles Sexualleben haben und trotz der Beschneidung Lust und Orgasmen erleben können.
Für diejenigen, bei denen das nicht der Fall ist, gibt es, wie für alle anderen Menschen mit sexuellen Problemen oder Dysfunktionen, Lösungen. Wenn Schmerzen vorhanden sind, stehen verschiedene Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung. Wenn es an Lust oder Erregung fehlt, erforscht man die multifaktoriellen Ursachen. Ein wichtiger Punkt ist, dass es nicht nur um FGM/C allein geht, da diese Tradition noch weitere Hindernisse für die Förderung von Sexualerziehung mit sich bringt: Barrieren für Masturbation, Sex, sexuelle Gesundheit und für die Erkundung der eigenen Genitalien. Das sind Dinge, die sich nicht in einer halben Stunde überwinden lassen. Wenn man in einem Umfeld aufgewachsen ist, in dem die eigenen Genitalien aus religiösen und kulturellen Gründen tabu waren, kann eine Veränderung Zeit brauchen. Wenn sie möchten, können unsere Patientinnen während der Untersuchung ihre Genitalien im Spiegel oder im Kolposkop betrachten. Sie können beginnen, sie zu berühren und kennenzulernen – das auch weiterführend zuhause. Es müssen also alternative, akzeptable Ansätze gefunden werden, die für die Frau und möglicherweise ihren Partner oder ihre Partnerin in Ordnung sind.
Ist das Thema mittlerweile ein Bestandteil der Ausbildung von Frauenärzt:innen?
Leider noch nicht überall. An den Medizin- und Hebammenschulen in Lausanne und in Genf ist es ein offizieller Teil des Lehrplans. Es gibt allerdings noch keine Standards, wie das Thema integriert wird. Oft wird es als isoliertes Thema für diejenigen betrachtet, die sich dafür interessieren. Für mich ist die Lösung jedoch klar: FGM/C sollte zu verschiedenen Zeitpunkten einbezogen werden, egal, ob man Anatomie, allgemeine Medizin, Gynäkologie, Urologie, Infektionskrankheiten, geschlechtsspezifische Gewalt, Ethnologie, Psychologie, Sozialwissenschaften oder Religion studiert oder sich in diesen Bereichen ausbilden lässt. Denn, wenn das gleiche Thema zu verschiedenen Zeitpunkten und aus verschiedenen Gründen behandelt wird, erinnert man sich daran. Spricht man lediglich in einem einstündigen Kurs davon, als sei es eine exotische Angelegenheit, ist es definitiv nicht nachhaltig.
Wie kann die Stigmatisierung oder Opfer-Darstellung in den Medien verhindert werden? Und ist es okay zu sagen, «Frauen, die FGM oder FGC erfahren haben»?
Ich glaube, es ist okay, das zu sagen. Deine Überlegungen und deine Sprache mag ich sehr; du bist sensibel bei alldem. Auch wenn ich selbst über das Thema schreibe, frage ich mich immer, wie ich etwas formulieren will. Das ist nicht so leicht – auch, weil das Thema sehr privat und bei vielen noch immer tabu ist. Es gibt Frauen, die sich als Opfer sehen; andere sagen, sie sind betroffen oder wurden beschnitten, und wieder andere sagen, sie haben FGM/C erlebt oder erfahren. «Erfahren» oder «erlebt» sind neutralere Begriffe, die trotzdem alle Perspektiven einschliessen können. In Berichterstattungen darüber ist es wichtig, die Vielfalt zu repräsentieren: Es gibt afrikanische, asiatische und arabische Frauen und Mädchen, die in unterschiedlichen Altersstufen und durch unterschiedliche Praktiken beschnitten wurden. Ausserdem gibt es Frauen und Mädchen aus europäischen Ländern oder Australien (als Beispiel), die zur zweiten oder dritten Generation mit afrodiasporalen, asiatischen oder arabischen Wurzeln gehören und ebenfalls in unterschiedlichen Altersstufen und durch unterschiedliche Praktiken beschnitten wurden.
Die bemerkenswerte Stärke der Frauen und Mädchen und ihre individuellen Geschichten brauchen eine viel grössere Plattform, die repräsentativ und inklusiv ist. Ich höre jeden Monat bis zu zwanzig verschiedene Lebensgeschichten. Manchmal haben sie die Wüste durchquert oder sind über eine Meerroute aus ihrer Heimat geflohen, ein neues Leben in einem neuen Land begonnen, Kinder geboren, studiert, gearbeitet, geheiratet. Leider wird all dies – über die Erfahrung der FGM/C hinaus – nie angemessen dargestellt. Die Medien zeigen oft sehr sensationslustige Darstellungen, die nur die Opferseite beleuchten. Es braucht viel mehr Nuance, mehr Stimmen und eine grössere Bandbreite.
Mehr Informationen: https://www.maedchenbeschneidung.ch/ (Sprachen: Deutsch, English, Italiano, Français, ትግርኛ, Soomaaliga, عربى)
Kontakt zu Dr. Jasmine Abdulcadir: +41 (0)22 3724049 oder +41 (0)22 3720954 oder jasmine.abdulcadir@hcuge.ch
Klinik in Genf: https://www.hug.ch/en/gynecologie/female-genital-mutilation, Rue Gabrielle-Perret-Gentil 4, 1205 Genève
Beckenboden-Physiotherapeut:innen in der Schweiz: https://www.pelvisuisse.ch/therapeutinnen-suche/
06. September 2024