«Schaut euch den Film mit einem offenen Herzen und einem offenen Geist an», bittet die palästinensische Regisseurin Areeb Zuaiter zu Beginn des Screenings von «Yalla Parkour» am Dokumentarfilm-Festival «Visions du Réel» das Publikum. Herz und Geist – genau da trifft einen der Film. Mit Bildern, die berühren, Bildern, die schmerzen, Bildern, die einem das Blut in den Adern gefrieren lassen, und Bildern, die unweigerlich Fragen aufkommen lassen: Lebt dieser Mensch heute noch? Steht dieses Haus heute noch? Hatte dieses Kind die Chance, ein Teenager zu werden?
Das Gaza, das in «Yalla Parkour» zu sehen ist, existiert heute so nicht mehr. Es war 2015, als Areeb Zuiater auf der Suche nach ihren nostalgischen Kindheitserinnerungen an das Meer in Gaza auf die YouTube-Videos der Parkour-Gruppe «PK Gaza» stiess. Fasziniert von den waghalsigen Stunts, die die jungen Männer, zum Teil noch Kinder, vor einer Kulisse aus explodierenden Bomben in Gaza ausführen, nahm sie Kontakt zu der Gruppe auf. Ahmed antwortete ihr. Der Beginn einer einzigartigen Freundschaft. Über mehrere Monate führte Ahmed die Filmemacherin mithilfe seiner Videos durch die Überreste von Gaza – durch Gazas Realität: Ruinen von Flughäfen und Einkaufszentren, staubige Strassen, zerbombte Gebäude, Friedhöfe. Die von der Parkour-Gruppe darauf ausgeübten Stunts wirken wie ein rebellischer Akt gegen diese zerbombten und doch so hohen Mauern, die sie umgeben. Eine Form von Freiheit, koste es, was es wolle.
Die Grenzen Gazas werden immer seltener geöffnet. Eine Ausreise ist beinahe unmöglich – selbst mit den Einladungen zu Parkour-Competitions, die der talentierte Ahmed regelmässig erhält. Schlimmeres zeichnet sich bereits ab. Das Ausmass der Probleme, mit denen Ahmed konfrontiert ist, wird einem immer mehr bewusst. Areebs Nostalgie und die anfangs widersprüchlichen Gefühle in Bezug auf Ahmeds Ausreisewunsch weichen einem tiefen Verständnis.
2016 schaffte es Ahmed dank seines Talents und seiner Parkour-Videos aus Gaza auszureisen. Er lebt heute in Schweden, der Film begleitet ihn auch dort.
Wir haben die Filmemacherin Areeb Zuaiter nach dem «Visions du Réel» zum Interview – via Videocall – getroffen.
Areeb, dein Film hat mich sehr berührt – gerade auch im Hinblick auf die aktuellen Umstände. Wie geht es Ahmed, seiner Familie und dir heute?
Areeb Zuaiter: Es ist schön, dass du das fragst. Ahmed geht es den Umständen entsprechend gut. Seine Familie in Gaza musste aus ihrem Zuhause fliehen. Seine Mutter ist nun aber zurück ins Haus – oder das, was davon übrig ist – gekehrt, weil sie keine Kraft mehr hatte und endlich wieder nach Hause wollte. Ich bin auch in engem Kontakt mit seiner Schwester, sie wurde vor Kurzem Mutter – das Kind macht nun auf Schutt und Asche seine ersten Schritte. Das Leid der Menschen in Gaza ist unbegreiflich, aber unser Leben hier, auch Ahmeds, muss irgendwie weitergehen – auch wenn es schwierig ist. Alles, was wir für selbstverständlich halten, ist nicht mehr Teil ihrer Realität.
Wie fühlt es sich an, den Film aktuell auf Festivals zu präsentieren?
Auf eine Art und Weise ist es erfüllend, jedoch auch unglaublich schwierig, in so vielen verschiedenen Welten gleichzeitig zu agieren. Der Film kann an Festivals auf der ganzen Welt reisen, während die Menschen in Gaza gefangen sind. Es freut mich aber natürlich sehr, dass «Yalla Parkour» so viel Aufmerksamkeit bekommt, dass die Säle ausverkauft sind und Menschen Gazas Realität verstehen wollen.
Du zeigst dein nostalgisches Empfinden in Bezug auf deine Heimat in deiner doch eher privilegierten Position sehr transparent im Film, öffnest aber gleichzeitig den Raum für die harte Lebensrealität der in Gaza lebenden Palästinenser*innen. Warum hast du dich dafür entschieden, dich und deinen Blickwinkel in den Film zu inkludieren?
Diese Entscheidung fiel erst spät. Zu Beginn war meine Absicht, den Film nur über das Parkour-Team zu machen und Ahmeds Geschichte zu folgen. Eigentlich sollte der Film enden, als Ahmed endlich seine Familie in Gaza besuchen kann. Ich entschied dann aber, dass ich das, was nach seinem Besuch in Gaza passierte, nicht einfach auslassen kann. Einer meiner Mentoren, der mich während der Entstehung des Films begleitet hat, legte mir ans Herz, alle Calls mit Ahmed aufzuzeichnen. Irgendwann hatte ich das Gefühl, dass es unsensibel wäre, meine Position und meine Geschichte nicht transparent zu machen.
«Yalla Parkour» ist ein poetischer und zugleich politischer Film, ohne zu politisieren. Wie ist dir das bei diesem sensiblen Thema gelungen?
Das passierte ziemlich intuitiv. Anfangs war der Film sehr viel politischer. Mir war bewusst, dass ich damit nur eine bestimmte Gruppe von Menschen ansprechen kann. Nämlich die, die sich sowieso schon für die Thematik interessiert. Also entschied ich, den Fokus wirklich auf die individuelle Geschichte von Ahmed zu legen, um Türen zu öffnen für ein tieferes Verständnis. Das geht leichter, wenn man der Geschichte eines Menschen folgen kann. Selbst ich war mir des Ausmasses des Leidens nicht bewusst. Erst durch Ahmed konnte ich dieses spüren.
Wie hast du die visuelle Sprache des Films entwickeln können? Ein grosser Teil des Materials stammt ja aus Ahmeds Archiv.
Ja, ein Drittel des Materials stammt aus Ahmeds Archiv. Das ermöglichte mir und nun auch dem Publikum, Gaza durch seine Augen zu sehen. Da ich selbst nicht in Gaza einreisen konnte, kam zu einem späteren Zeitpunkt ein sehr talentierter Kameramann, Ibrahim Al-Otla, aus Gaza dazu, der einige der poetischeren Aufnahmen machte – immer in Absprache mit mir und basierend auf meinen visuellen Vorstellungen. Als Ahmed dann nach Schweden fliehen konnte, hatte ich direkten Zugang zu ihm. Gemeinsam mit dem Kameramann Marco Padoan reiste ich oft nach Schweden. So konnten wir die poetische visuelle Sprache des Films weiterführen.
Was war die grösste Herausforderung beim Realisieren des Films?
Der Zugang – beziehungsweise der verwehrte Zugang. Dieser ist für einen Dokumentarfilm essenziell. Ich war so weit weg vom Ort des Geschehens. Das führte dazu, dass ich mich komplett auf die menschliche Verbindung verlassen musste, da die physische Nähe und Anwesenheit nicht möglich waren. Dazu kam die Zeitdifferenz – ich lebe in den USA. Am Schluss hat es aber trotzdem irgendwie geklappt.
Was soll «Yalla Parkour» in den Menschen bewirken?
Wenn die Menschen nach dem Film den Saal verlassen und dabei an Ahmed, die Menschen in Gaza und ihr Schicksal denken, wenn sie sehen, wie Gaza vor dem Genozid aussah, und davon berührt sind, dann habe ich mein Ziel erreicht.
23. Mai 2025