Ich erinnere mich noch genau: Vor zwanzig Jahren sass ich mit meinen Mitschülerinnen in einem grossen Saal, um «Der Pianist» zu sehen. Es war Teil unserer Bildung, Teil des Geschichtsunterrichts, eine kollektive Erinnerung daran, was all die Jahre zuvor geschehen war. «Kinder, jetzt schauen wir uns mal einen Film über den Zweiten Weltkrieg an», meinten die Ordensschwestern. Ich erinnere mich an das Gefühl der Lähmung, an das Entsetzen, das mich ergriff, während mein kindlicher Verstand die Abgründe menschlicher Grausamkeit und die unerschütterliche Schönheit der Welt kaum zu fassen vermochte.
Vor 22 Jahren gewann Adrien Brody als jüngster Schauspieler einen Oscar für seine Rolle als Władysław Szpilman. Nun, zwei Jahrzehnte später, ist Brody erneut in der Rolle eines Holocaust-Überlebenden zu sehen. Diesmal spielt er einen ungarisch-jüdischen Architekten, der in Amerika sein Glück sucht – und dabei scheitert, wie gewinnt. «Der Brutalist», inszeniert von Brady Corbet und gemeinsam geschrieben mit seiner Frau, der Regisseurin Mona Fastvold, ist ein Monument von einem Film – ein Epos, gedreht auf VistaVision, einem Breitbildformat, das in Hollywood zuletzt in den frühen 1960ern verwendet wurde, das seine Weltpremiere in Venedig als 70-mm-Kopie feierte. Mit zehn Nominierungen und Oscar-Buzz um Brody reiht sich dieser Film in die grosse Tradition bedeutender Werke ein.
Corbet erzählt die fiktive Geschichte von László Tóth, einem ungarischen Bauhaus-Architekten, der als Jude das Konzentrationslager überlebte und nach dem Krieg in die USA emigrierte. In zwei Akten und über 215 Minuten entfaltet sich eine Geschichte von Träumen, Hoffnung und der schonungslosen Realität des American Dream. Tóth, gespielt von Brody, kommt voller Visionen in die Vereinigten Staaten. Doch schnell gerät er in die Umlaufbahn des mächtigen Industriellen Harrison Lee Van Buren (wunderbar ambivalent gespielt von Guy Pearce), der ihn mit einem gigantischen Projekt beauftragt: ein monumentales Community-Center in Pennsylvania, das ihn über zwei Jahrzehnte hinweg beanspruchen, zermürben und schliesslich verschlingen wird – körperlich, geistig und seelisch.
Bereits in den ersten Minuten zieht der Film mit der Erzählstimme von Erzebet, Tóths Frau (grandios gespielt von Felicity Jones), seinem hypnotisierenden Score von Daniel Blumberg und seinen beeindruckenden Bildern in den Bann. Die Körnigkeit des analogen Materials, das Spiel mit Licht und Schatten, die weiten Landschaftsaufnahmen Amerikas stehen in scharfem Kontrast zu den brutalistischen Betonbauten, die Tóth entwirft. Der Film reicht von der Nachkriegszeit bis zur ersten Architekturbiennale 1980 und spiegelt in seiner ästhetischen Radikalität die Visionen seines Protagonisten wider. Visionen, Modelle, schliesslich Monumente – so real und greifbar, dass man zwischendurch vergisst, dass es Tóth nie gegeben hat. Sein Trauma wohnt in den brutalistischen Gebäuden, die er entwirft. Nachts holt es ihn ein – im fiebrigen Drogenrausch. Dazwischen zerfällt der amerikanische Traum. Denn hinter der architektonischen Grösse verbirgt sich eine beklemmende Wahrheit: Tóth bleibt ein Fremder in dieser Welt, die Van Buren gehört. Trotz aller Anerkennung fühlen er und seine Frau sich nie wirklich akzeptiert – nur geduldet, wie Van Burens Sohn ihm unverhohlen entgegenschleudert. Das Versprechen des American Dream entlarvt sich als Illusion, eine vermeintliche Idylle, die Corbet mit langen, schmerzhaft schönen und fast klaustrophobischen Einstellungen untergräbt.

Aus der teils rastlosen, teils still verweilenden Kameraführung von Lol Crawley, Blumbergs Soundtrack, einem Klangteppich, der die epische Wucht des Films unterlegt, und den aussergewöhnlichen Schauspielleistungen aller Beteiligten ergibt sich ein monumentales Konglomerat. Ein Meisterwerk fängt ein Meisterwerk ein und die Haptik des analogen Materials umrahmt nicht nur Tóths Geschichte, sondern auch dessen Architektur – oder den Carrara-Marmor, den er mit Van Buren in Italien begutachtet. Er wandert durch endlose weisse Gänge, die sich als Labyrinth des Wahnsinns entpuppen.
Corbet dekonstruiert in «Der Brutalist» nicht nur den Mythos des genialen Architekten, sondern auch die Abhängigkeitsverhältnisse, die seinen Erfolg bestimmen. Dabei wollte er nicht zum Kanon der Filme über männliches Genie und Erbe beitragen. Tatsächlich erfindet er in seiner Fiktion wenig Neues, denn trotz der scharfsinnigen Darstellung von Felicity Jones bleiben auch in «Der Brutalist» Frauen auf die Ambitionen, die Selbstverwirklichung und das Ego der Männer angewiesen. Doch Tóths Monument ist nicht die Abbildung seines Genies, sondern die einer Erfahrung – eines Überlebens, das sein weiteres Leben unwiderruflich formt. Tóth überlebt den Holocaust, überlebt seine Peiniger und wird schliesslich an der ersten Architekturbiennale geehrt – eine Erfolgsgeschichte. Die Schlusssequenz, die zunächst wie aus dem Film gefallen scheint, enthüllt in diesem Moment jedoch die bittersüsse Wahrheit des American Dream: ein Narrativ, das Schmerz und Entbehrung in Hoffnung umdeutet, um sich selbst weiterzuerzählen.
Corbets Film ist mehr als eine Biografie oder eine Fiktion – er ist ein Abbild der Sehnsüchte, Illusionen und Abgründe, die das 20. Jahrhundert prägten und bis heute nachwirken. Und auch wenn mein Denken längst erwachsen ist – die Ohnmacht bleibt dieselbe.
23. Februar 2025