Aus der letztjährigen offiziellen Analyse des Schweizer Wohnungsbestandes vom Bundesamt für Statistik (BFS) geht hervor, dass es in der Schweiz rund 71’365 leerstehende Wohnungen gibt. Die Dunkelziffer würde den Leerwohnungen-Anteil von 1,54 Prozent am gesamten Schweizer Wohnungsbestand wohl noch um einiges in die Höhe treiben. Nicht berücksichtigt werden hier leerstehende Gewerbeflächen oder Räumlichkeiten der Stadt oder von Privatpersonen. Wem gehört Raum in einer wachsenden Grossstadt und wie lassen sich Fragen der Inklusion und Exklusion aus einer solidarischen Perspektive beantworten? Die brisante Raumfrage macht auch im Kanton Zürich keinen Halt und lässt nebst verschiedenen Zwischennutzungsangeboten und subventionierten Atelierräumlichkeiten nicht mehr viel Spielraum für bezahlbare Arbeitsplätze von Kreativschaffenden.
Wer die Raumknappheit und die damit verbundenen Spannungen zwischen verschiedenen Gesellschaftsgruppen gerade am eigenen Leib erfahren muss, ist das «Experi Theater» Zürich. Im Zusammenhang mit deren Projekt «Blackbox» konnten die Initiant:innen im 2021 einen weitgehend ungenutzten Dachstuhl oberhalb des Stall 6 der Gessnerallee beziehen. Seither transformierte sich die grossräumige Abstellkammer des Theaterhauses an der Sihl zu einem essenziellen Ort des Austausches für eine Vielzahl an BIPOC-Künstler:innen. Die Blackbox ist ein performativer Black*Space und ein Black*BIPOC-Künstler:innen- & Aktivist:innen-Kollektiv für sozial-politischen Fortschritt, deren fruchtbares Refugium nun seit wenigen Tagen plötzlich bedroht scheint:
Um herauszufinden was der politisierte Dachstuhl mit institutionalisierter Gewalt, Machtstrukturen und kolonialem Erbe zu tun hat, haben wir uns mit dem Kollektiv hinter dem Experi Theater unterhalten.
Vielen herzlichen Dank, dass ihr euch Zeit nehmt für diesen Austausch! Erst einmal: Wer seid ihr?
Vielen Dank auch von unserer Seite, dass wir dieses Gespräch hier führen können. Wir sind Experi Theater. Experi Theater ist eine nicht-weisse Performancegruppe, die sich über die Jahre zu einem wechselnden Kollektiv verschiedener Künstler:innen und Unterstützer:innen entwickelt hat. Seit 2013 hat Experi Theater neun grössere und eine Vielzahl von kleineren Performancearbeiten in Zürich und an vielen anderen Orten realisiert. Viele der Arbeiten fanden im öffentlichen Raum statt, in Bars, Restaurants, auf Strassen und Plätzen, in Brockhäusern, Abrisshäusern und an anderen provisorischen Orten.
Seit 2020 initiieren wir die Langzeit-Performancearbeit «Blackbox», die einen konkreten Raum und Safer Space für BIPOC-Künstler:innen in der Mitte der Stadt schafft. Experi Theater wurde 2013 von P. Vijayashanthan gegründet. Der Impuls zur Gründung von Experi Theater ist eng verwoben mit Erfahrungen als nicht-weisse Person im Theaterraum ausgestellt zu werden. Gerade die Zeit der 2010er Jahre, in der es permanent um «Migration, Flucht, Asyl und Integration» ging, brachte in der Kunst und Kultur vor allem eine Praxis des demonstrativen Ausstellens von Diversität und Vielfalt hervor. Kulturprojekte, die von weissen Europäer:innen geleitet wurden, stellten geflüchtete, migrantische, nicht-weisse Personen auf die Bühne.
Um zu beweisen, dass ein gemeinsames Zusammenleben ohne weiteres möglich ist, dass sich das koloniale Erbe in einen sozialen und kulturellen Mehrwert «für alle» umdeuten lässt. Experi Theater verkörperte von Beginn an eine künstlerische Geste des Widerstands gegen solche Praktiken. Aus diesen Erfahrungen heraus schaffen wir für uns und andere Künstler:innen Räume für dekoloniale, nicht-weisse künstlerische Praktiken.
Welche Wichtigkeit hat der Dachstuhl oberhalb vom Stall 6 in der Gessnerallee für euch als Kollektiv und für die Entwicklung eurer kreativen Praxis?
Wir arbeiten seit 2020 in verschiedenen Koproduktionen mit dem Theaterhaus Gessnerallee zusammen. Im Zusammenhang unserer Arbeit «Blackbox» haben wir 2021 die Büroräume oberhalb des Stall 6 bezogen. Das Büro ist seither unsere Homebase. Hier finden die Planungen des Blackbox-Programms und der Blackbox-Tour statt. Hier entsteht das Blackbox-Archiv. Hier treffen wir uns mit unserer BIPOC-Künstler:innen-Community. Als wir das Büro bezogen haben, haben wir auch herausgefunden, dass sich direkt daneben ein riesiger Dachstockraum befindet, der quasi ungenutzt ist. Ein wunderschöner Raum in der Mitte der Stadt in einem Haus für Künstler:innen und das ungenutzt!
Im Juni 2021 haben wir diesen Raum besetzt und ihn als Experi-Werkhalle initiiert. Die Experi-Werkhalle ist die Schwester der Blackbox. Die Blackbox ist ein Raum im Aussenraum, die Experi-Werkhalle ist ein Innenraum. Über das Jahr 2021 haben wir verschiedene Performances, Konzerte und Ausstellungen in der Experi-Werkhalle initiiert.
Mit einem Recherchebeitrag der Stadt konnten wir die Performancearbeit «Black Sand» in der Experi-Werkhalle realisieren. Für eine nicht-weisse künstlerische Praxis, um die es in all unseren Arbeiten geht, sind grundsätzlich vor allem zwei Aspekte wichtig: Zum einen braucht es konkrete Arbeits- und Versammlungsräume, als physisch materielle Grundlagen und Safer Spaces für eine dekoloniale Praxis der Kontinuität. Zum anderen braucht es die direkte, konfrontative Arbeit mit und innerhalb der weissen Institutionen-Öffentlichkeit, um schrittweise eine Sphäre der Sichtbarkeit und ein Bewusstsein für die strukturelle Komplizenschaft zwischen Kunst und White-Supremacy-Culture zu schaffen und konkrete künstlerische Realitäten jenseits von Praxisformen eines paternalistischen Goodwills zu anzuregen.
Beide Aspekte sind in Bezug auf die Experi-Werkhalle und unsere Präzenz im Dachstock der Gessnerallee gegeben. Diese Konstellation hat eine Wichtigkeit und Dringlichkeit die weit über Experi Theater selbst hinausweist.


Welche Dringlichkeit seht ihr in der Nutzung des Dachstuhls von Seiten der Gessnerallee selbst?
Das Theaterhaus Gesserallee ist in vielerlei Hinsicht unterstützend in Bezug auf unsere Arbeit, die sehr stark mit einem Konzept der Öffnung des Hauses korrespondiert, mit dem das derzeitige Leitungssteam 2020 angetreten ist. Leider hat sich diese Position in Bezug auf den Raum Experi-Werkhalle vor Kurzem geändert. Dabei steht von Seiten des Theaters vor allem die Behauptung im Vordergrund, dass der Dachstockraum als Lagerraum benötigt wird. Für uns stellt sich diese Argumentation als fadenscheinig dar. Wir kennen die Umstände des Hauses inzwischen ziemlich gut und sind, basierend auf dem faktischen Wissen, das wir über die Zeit gesammelt haben, überzeugt, dass es für die Frage von Lagerung alternative Möglichkeiten gibt. Vielmehr haben wir den Eindruck, dass sich an der Frage des Teilens von Raum und dem Abgeben von Kontrolle darüber, was konkret in diesem Haus Platz findet, die tiefsitzenden Ängste des Teilens von Macht, die die weissen Institutionen in ihrem strukturellen Kern betreffen, konkretisieren.
Aus unsere Erfahrung mit White Fragility und strukturellem Rassismus wissen wir, dass genau in diesen Momenten die Handlungen in Abwehr und das Bedürfnis nach einem wiederherstellen altbekannter Machtstrukturen umschlagen. Diese basieren nicht auf praktischen und faktischen Grundlagen, sondern auf einem irrealen Moment der Kränkung. De facto hat uns das Theaterhaus in den letzten Tagen ein Ultimatum gesetzt, die Experi-Werkhalle zu verlassen. Wir befinden uns deshalb derzeit konkret in einer Aktion des Widerstands. Dabei sind wir gleichzeitig überzeugt, dass es in praktischer Hinsicht vielerlei Wege gibt, die realen Bedürfnisse des Theaterhauses und die Präsenz der Experi-Werkhalle zusammenzubringen.
Was für Programmpunkte und Produktionen erwarten uns vom Experi Theater in den kommenden Monaten?
Für die Experi-Werkhalle gibt es bereits eine ganze Reihe von konkreten Planungen. Beginnen werden wir mit der Probenarbeit für unsere nächste grössere Performancearbeit «PLANTATION #1 – nativeness», die im März 2022 in der grossen Halle der Gessnerallee gezeigt werden wird. In diesem Zusammenhang initiieren wir gemeinsam mit verschiedenen BIPOC-Künstler:innen einen Rechercheprozess, der sich aus einer dekolonialen Perspektiven mit Praktiken des planting und deplanting von Menschen und Pflanzen beschäftigt. In diesem Zusammenhang wird auch eine weitere Ausgabe unserer (Colonial) Walks im öffentlichen Stadtraum entstehen. Zudem möchten wir bald unsere Performancearbeit Black Sand zeigen, die im letzten Winter zusammen mit fünf Black*Performer:innen in der Experi-Werkhalle entstanden ist und die wir aufgrund von Corona nicht mit der Community teilen konnten.
Daneben gibt es ganze Reihe von Gesprächen mit BIPOC-Künstler:innen für Ausstellungen, Konzerte und Performancearbeiten sowie eine internationale Bookfair für tamilische Literatur. Im Rahmen unserer Arbeit «Blackbox» haben wir in den letzten Jahren mit mehr als 150 BIPOC-Künstler:innen zusammengearbeitet. Mit vielen von ihnen sind wir in regelmässigem Austausch und es entsteht eine Form der kontinuierlichen Zusammenarbeit, die für die Prozesse dekolonialer künstlerischer Praktiken absolut entscheidend ist.
Gleichzeitig gehen die Planungen von Blackbox für das nächste Jahr weiter. Hier entsteht derzeit ein eigenes Planungsteam von BIPOC-Künster:innen in der Romandie. Unser Büro im Dachstock befindet sich derzeit in einem organisatorischen Transformationsprozess hin zum Experi Betriebsbüro, das sich dabei zu einem Produktionsbüro entwickelt, dass BIPOC-Künstler:innen bei der Produktion ihrer künstlerischen Arbeiten unterstützt. Bereits dieses Jahr konnten wir mehrere solcher Vorhaben umsetzen und weitere sind bereits in Planung.
Im Zusammenhang von Experi Betriebsbüro werden wir auch z.B. Momente der Zusammenkunft initiieren, in denen sich Künstler:innen aus der BIPOC-Community über ihre Erfahrungen und Umgangsstrategien in der Zusammenarbeit mit weissen Kulturinstitutionen austauschen können. Gleichzeitig wird es im nächsten Jahr eine ganze Reihe von Angeboten geben, die zum Ziel haben, dass wir unser Wissen im Bereich Produktion und Administration mit Interessierten aus der BIPOC-Community teilen werden.
Was wünscht ihr euch allgemein für die Zukunft?
Unsere Zunkunft geht von unseren Vergangenheiten aus. Aus dem Wissen und den Stimmen unserer Vorfahren, aus den unzähligen Stimmen, die eine Praxis des Lebens und Überlebens in einer kolonialisierten Welt bezeugen. Aus ihnen schöpfen wir jeden Tag die Kraft uns gemeinsam zu bewegen, aufzustehen, weiterzugehen. «Blackbox» und «Experi-Werkhalle» haben in den letzten Jahren Raum geschaffen, unsere Bewegungen sicherer und für uns als Community sichtbarer zu machen. In dieser Bewegung formieren sich weitere Schritte am Horizont.
Im Juni haben wir ein Gesuch für eine 6-jährige Förderung für die Experi-Werkhalle als non-white Theatre House eingereicht. Am 15. September werden wir die Jury zum Gespräch treffen. Das non-white Theatre House wird den Dachstockraum oberhalb des Stall 6, die Blackbox sowie den Nordflügel der Gessnerallee umfassen. Wir kämpfen für einen substantiellen künstlerischen Raum für die BIPOC-Community. Es wird ein langer Weg. Wir werden ihn gehen.
06. September 2022