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Das perfekte Opfer 

In den letzten zwei Jahren wurde mein jugendliches Schwarz-Weiss-Denkschema auf die Probe gestellt und hat den Stresstest leider nicht bestanden. Meine Vorstellungen, an denen ich lange festgehalten hatte, durfte ich langsam aber sicher loslassen. Doch was heisst das bei der Beurteilung von Situationen, Menschen und Verhältnissen? 

Von Sina Schmid

Als Gesellschaft befassen wir uns täglich mit Täter:innen und Opfern. Die Schuldfrage wird oft gestellt und oft beantwortet, meistens jedoch ohne nötigen Durchblick für die Komplexität gewisser Situationen. Klar, bei Straftaten sieht das anders aus, dort sind Täter:innen und Opfer strikter definiert und das muss so. Wie ist es aber bei zwischenmenschlichen Problemen und Umständen? 

Verschiedene persönliche Situationen erlaubten mir, mich als vermeintliches Opfer zu sehen. Doch das perfekte Opfer gibt es nicht (oder selten). Zwischenmenschlich trägt man immer gewisse Verantwortungen, ob man will oder nicht. Selbstverständlich gibt es Ausnahmen, besonders wenn es um körperliche oder psychische Gewalt geht. Doch wenn man diese Fälle auslässt, dann ist es doch oft so, dass alles in einer Abhängigkeit steht. 

Ob jemand etwas verdient oder nicht, ist hier nicht die Frage. Die Frage ist, ob wir mental und emotional von den perfekten Täter:innen und den perfekten Opfern wegkommen oder nicht. Dieses Schwarz-Weiss-Denken schränkt einen nämlich enorm in Empathie und Fähigkeit, Situationen differenziert zu analysieren, ein. 

Schnelle Urteile sind teilweise wichtig, um in einer schwierigen Situation schützend zu reagieren. Gleichzeitig hindern sie einen daran, Situation und Menschen in ihrer ganzen Fülle und Komplexität zu sehen und durch unsere vereinfachten Gedankengänge gnädig zu sein. 

Wenn ich ehrlich bin, bin ich auch bei Situationen, die mir wehgetan haben oder auch tun, mindestens keine Bekämpfende und höchstens Mittäterin. Das hilft mir bei der Bewältigung meiner Probleme, aber auch bei der Beurteilung (oder Verurteilung) anderer Menschen und ihrer Probleme.  

Schlussendlich muss jeder und jede selbst zu dieser Erkenntnis gelangen. Für mich selbst hat es schwierige Situationen gebraucht, in denen ich mich lange als perfektes Opfer gesehen habe. Doch das stimmt leider oft, und auch in meinen Fällen, nicht ganz. 

Aktuell fühlt es sich so an, als wäre die Welt im Wandel. Alles scheint ein wenig komplexer, gefährlicher, beängstigender. Wir müssen für uns selbst finden, an was wir festhalten. Für mich sind es neben meinen Liebsten der Anspruch, gutmütiger und gnädiger zu sein. Zu mir, zu anderen, zur Welt. 

Diese Gutmütigkeit kann nur brillieren, wenn komplexe Situationen als das gesehen werden, was sie sind: komplex.

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