Vorweg: Ich habe weder fundierte Ahnung von noch viel Liebe für Festivals. Die Vorstellung einer verschwitzten, grölenden Menge, die zu dumpfen Texten noch dumpfer mitschwingt, lauwarmes Bier über staubige Lippen laufen lässt, bis am Ende gar nichts mehr geht und man in einem schiefen, wackeligen Zelt einpennt, während der Bass einen gnadenlos in den Schlaf hämmert, der Regen den Boden unter einem weich und feucht macht und die Sommersonne wenige Stunden später das Zelt in einen stinkenden Plastiksarg verwandelt – sie liess mich lange schaudern.
Wer also wäre besser geeignet als ich, um hier Festivalweisheiten rauszuhauen?
Anlass: Ich war am Wochenende – nicht zum ersten Mal – beim Openair in St. Gallen.
Fazit: Grandios.
Grund: Weil es dort zwar auch verschwitzte, grölende Menschen gibt, aber freundliche, ehrliche Massen. Weil niemand versucht, aus einem Bierbecher eine Philosophie zu machen. Weil man im gemütlichsten Outfit auftauchen kann und es niemanden interessiert. Kein Glitzerschminken, keine überteuerten Kostüme, keine absurden Lichtershows, kein Rumgedrücke auf Knöpfen von Typen, die weder je ein Instrument gespielt noch einen Ton getroffen haben, kein langes Anstehen an den Toiletten, keine unverschämten Preise – einfach nichts von alledem.
Dafür: Wenige grosse Bühnen und viele grosse Namen. Ein Line-up, das für Rock-, Pop-, Indie- oder Hip-Hop-Fans – also mich in Personalunion – keine Wünsche offenliess. Kings of Leon sagt ab? Dann holen wir eben spontan Kraftklub. Lewis Capaldi wollten wir damals ja holen und dann hat es nicht geklappt. Überraschung: Er kommt heute und spielt nach über zwei Jahren Pause und sorgt für absolute Gänsehaut. AnnenMayKantereit, Ski Aggu, Berq, Grossstadtgeflüster, Edwin Rosen, Faber. Dazu Mark Ambor aus den USA, Royel Otis aus Australien. Und und und.
Die Stimmung freundschaftlich, fast schon rührselig. Da bittet Kraftklub hunderte Menschen auf die Bühne, um gemeinsam den Chor anzustimmen, während die Security nicht weiss, wie ihr geschieht. «Schweiz einfach anders», schreibt die Band kurz darauf auf Social Media. Da begrüsst Ski Aggu auf holprigstem Schwizerdütsch und spielt – während die Meute auf einen brechenden Bass wartet – ganz einfach mal den Klassiker «W. Nuss vom Bümpliz» und alle singen natürlich schunkelnd mit. Da staunen Künstlerinnen und Künstler aus aller Welt mit grossem Augen und strahlendem Lächeln über Stimmung, Land und Leute und ich Naivling, musikverträumt und leicht angetrunken, kaufe es allen ausnahmslos ab.
Gepaart mit einem – Gott segne euch Schweizerinnen und Schweizer dafür – unschlagbaren Organisationswahn bis ins allerkleinste Detail, einem Gelände, auf dem alles in fünf Minuten erreichbar ist, herzensguten Menschenmassen und traumhaften Sound. Ja, was wollt ihr denn mehr? Oder wie es bei AnnenMayKantereit heisst. «Und ich will, dass es für immer so bleibt.»
Wenn ihr also Festivalrat von jemandem braucht, der von Festivals beunruhigend wenig Ahnung hat, der so vieles daran fast schon panisch fürchtet und verachtet, dann nehmt euch diese Worte zu Herzen: Für Pop-Fans ist – jap, wilde Aussage – das St. Gallen Openair ganz vielleicht und für mich ganz sicher das beste Festival der Welt. Micdrop.
01. Juli 2025