Logo Akutmag
Icon Suche

Daily Thoughts: Erinnern, verinnern

Erinnerungen sind ebenso schön wie schmerzhaft. Besonders zur Festtagszeit kommen sie hoch: Momente die auf die Seite gedrängt wurden. Einige Gedanken, warum wir künftige Erinnerungen lieber umarmen sollten.

Von Leila Alder

Letzens hatte ich ein Gespräch auf einem Balkon mit einer dieser Freundinnen, die einen begleitet seit man denken kann und die einen besser kennt als einem lieb ist. Eine dieser Freundinnen, die man oftmals aus dem Leben schiebt, weil man den Spiegel nicht erträgt, den sie einem vorhält. Weil man manchmal einfach nur noch die Version seiner Selbst sein möchte, die man jetzt ist und nicht daran erinnert werden will, wer man einmal war oder was man einst erlebt hat. Weil man es nicht erträgt, wenn man durchschaut wird. Nicht erträgt, wie das Gegenüber mit deinem inneren Kind spricht.

Warum? Fragten wir uns gemeinsam auf dem Balkon. Und dieses «Warum», brachte einiges in mir ins rollen: Erinnerungen sind immer mit Schmerz verbunden. Sie zeigen uns, wie vergänglich alles ist und gleichzeitig wie prägend jedes Erlebnis vergangen oder gegenwärtig ist. 

Ein Beispiel: Ich vermisse mein Grossmami. Sehr. Ich denke aber nur selten an Momente mit ihr, die mich so sehr geformt haben – weil es weh tut, weil ich weiss, dass diese Momente nie mehr wieder kommen werden. Dass diese Zeit vorbei ist. 

In der Weihnachtszeit, wenn ich bei meinen Eltern einkehre, kommen tausende Erinnerungen hoch. Alle aufs Mal. Wie ich am morgen früh alleine und ganz leise aus meinem Bett kroch und mich unter den Christbaum setzte, seine Nadeln roch, die glitzernden Kugeln bestaunte und diese Magie und Freude in meinem Herzli kaum fassen konnte. Wenn ich daran denke, spüre ich sie wieder, diese Funken. Und dann schaue ich in den Spiegel und sehe, wie aus dem kleinen Mädchen eine Frau geworden ist.

Eine Frau, die manchmal vergisst, wie sie einmal war, was sie erlebt hat, was sie gefühlt hat, was sie geliebt hat, was sie gehasst hat. Und die manchmal Angst hat, daran erinnert zu werden, weil sie dann weint. Viel weint. Weniger, wegen den schmerzhaften Zeiten, viel mehr, wegen den schönen, die es so nicht mehr geben wird. Dann frage ich mich, ob ich in diesen Momenten gemerkt habe, wie schön sie sind, ob ich glücklich war, und wenn ja, ob ich damals wusste, wie glücklich ich war.

Diese Freundin auf dem Balkon und ich, wir hatten uns auch gegenseitig aus dem Leben geschoben – ein Weilchen. Wir haben uns wieder jetzt. Weil wir erinnert werden möchten, um wachsen zu können. 

Heute Morgen bin ich früh, alleine und ganz leise aufgestanden, hab mich unter den Christbaum gesetzt und habe die Nadeln gerochen. Ich musste etwas näher als früher, ich rieche nicht mehr so gut wie damals, musste ich feststellen. Und weil nichts bleibt, wie es ist, noch nicht einmal mein Geruchssinn, möchte ich künftig alle Momente aufsaugen, konservieren, sie wahrnehmen mit all meinen (mehr oder weniger funktionierenden) Sinnen, um dann mutig auf sie zurückblicken zu können und zu wissen, dass ich sie geschätzt habe und wie glücklich ich damals war.

30. Dezember 2021

Support us!

Damit wir noch besser werden