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Cry baby – im Restaurant

Früher habe ich selten geweint. Wenn ich spürte, dass etwas rausmusste, habe ich einen traurigen Film oder eine traurige Serie angemacht. Es war für mich eine gute Entschuldigung, um bitterlich zu weinen, ohne dem eigentlichen Grund für die Tränen nachgehen zu müssen.

Von Julia Landis

Empathische Tränen sind immer viel leichter gerollt als Tränen für mich selbst. Es hat etwas Ehrenhaftes, für andere zu weinen – etwas Fürsorgliches, Nächstenliebendes, Tugendhaftes. Aber für mich selbst – das fühlte sich immer zu fragil an.

Erst als mich der Verlust eines Menschen so berührte, dass ich keine Kontrolle mehr über meinen angestauten Schmerz hatte, rollten all die Tränen, die ich nie für mich vergossen hatte. Und wie sie rollten. Ich weinte überall: zuhause im Bett, auf dem Laufband im Fitnessstudio, auf dem Nachhauseweg vom Einkaufen, in der Badi, versteckt unter meinem Hut, im Restaurant mit meinen Freundinnen – da besonders oft. Ich konnte nicht mehr über meine Gefühle sprechen, ohne dabei Tränen zu vergiessen. Konnte die Gefühle nicht mehr nur rational wiedergeben, sondern musste sie in dem Moment, in dem ich über sie sprach, auch fühlen.

Mein TikTok-Algorithmus hatte natürlich sofort gecheckt, in was für einer Lebensphase ich mich befand. Plötzlich waren tausende Videos auf meiner FYP, in denen Menschen ihre Erfahrungen oder die Weisheiten ihrer Therapeut*innen teilten. Menschen, die sich beim Weinen im Zimmer filmten. Ich war verblüfft. Auch etwas überfordert. Für alles gab es eine Diagnose. Wenn es nach den Menschen auf TikTok ging, hatte ich keinen Herzschmerz, sondern «Limerence». Der Begriff steht für einen Zustand, der das intensive und obsessive Verlangen nach einer anderen Person beschreibt, gekennzeichnet durch aufdringliche Gedanken, emotionale Abhängigkeit und ein starkes Bedürfnis nach Erwiderung. Nach längerem Scrollen musste ich mich dann wieder von dieser virtuellen Bubble distanzieren, die eben doch fern von der Realität ist. Sobald ich nach draussen ging, war ich nämlich die Einzige, die auf offener Strasse, im Restaurant oder beim Spazieren weinte.

Was mich schlussendlich weiterbrachte, mich wachsen liess, mir Heilung schenkte, war weniger das Darüber-Reden, sondern vielmehr das Erleben meiner Gefühle. Sie wirklich zuzulassen. Nicht nur auszusprechen, dass es mir schlecht geht, sondern es auch zu zeigen. Eine neue Eigenschaft wurde dadurch unlocked, die ich nicht mehr missen möchte.

Ich wünsche mir für uns alle, dass wir nicht nur hinter unseren Smartphones aus Trenderscheinungen heraus und um «echt» zu wirken weinen, sondern auch im Alltag. Draussen. Im Leben. Dann, wenn einem danach ist. Und wenn ihr mal jemanden im Restaurant weinen seht, kommt doch hallo sagen – ich würde mich freuen.

09. Oktober 2025

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