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Ciao, Hohlstrasse

Unser Autor sitzt in der Badewanne; er raucht und nimmt Abschied von der Wohnung, die er in den letzten Jahren sein Zuhause genannt hat. Ein Liebesbrief.

Von Lino Kalt

Ich sitze rauchend in der Badewanne. In meinem Badezimmer ohne Fenster. In der Hohlstrasse in Zürich. Meiner Verkehrsachse. Der grossen, pulsierenden Ader meiner Stadt. Dieser Strassenabschnitt, wo ich nun vier Jahre lang wohnen durfte, ist auch: die Heimat des Evin-Kebabs, des Holy Trinity-Kiosks, unzähliger Atelierplätze und des PJZs. Ich ziehe um. Ich beginne eine Konversation mit dem nie stillstehenden Badezimmerventilator. Wir summen uns an. Brumm. Eine Spinne läuft über den Spiegelschrank. Früher hätte ich Angst vor ihr gehabt. Heute habe ich Angst vor anderen Dingen. Vor der Zeit, die so schnell geht. Vor Veränderung. Vor dem Alleingelassenwerden. Aber heute bin ich es, der geht. Ein Liebesbrief an meine Wohnung in der Hohlstrasse.

Als ich hier einzog, stand der Polizeikoloss zwar schon, war jedoch noch nicht in Betrieb genommen worden. Blaulicht gab es dafür immer schon frühmorgens. Die Hohlstrasse verbindet die Zürcher Innenstadt mit den Vororten im Nordwesten.

Meine Wohnung befand sich direkt über dem Evin Kebab. Der place to be für die gesamte Nachbarschaft. Hier treffen Studierende, Arbeitslose, Rentner:innen, das Personal des PJZ und Nachteulen aufeinander. Die drei Mitarbeiter wurden schnell zu engen Bekannten, so häufig wie man einander sah. Spätnachts kauften wir Bier und Essen, oder schauten einfach nur vorbei, um zu plaudern. Den Jungs im Evin entging nichts, was sich in den ringhörigen Wohnungen über ihnen abspielte. Und so waren sie stets bestens informiert, über Musikpräferenzen, Arbeitszeiten und Besucher:innen, die bei uns aus- und eingingen. Ich wurde über das Geheimnis meines Mitbewohners ausgefragt: Wie er es denn schaffe, immer von so vielen verschiedenen, so schönen Frauen nach Hause begleitet zu werden, wo Gott ihn doch nicht gerade nach Adonis-Vorlage erschaffen hat?

Die ersten Wochen hatte ich allein in der Wohnung verbracht. Mein Mitbewohner zog erst drei Wochen nach mir ein. In dieser Zeit lernte ich durch mein Schlafzimmerfenster den Hinterhof kennen. Den Ernahof mitsamt dem Ernahort. Kindergeschrei ab Mittag. Von meinem Schlafzimmerfenster aus gelangte man auf das Hofdach, wo sich die Fussbälle der Hortkinder ansammelten. Schnell merkte ich, dass sie zwei Strategien hatten, um diese zurückzuholen: über einen Baum aufs Dach klettern oder bei mir klingeln. Dann standen frühmorgens schon drei Zwerge vor der Wohnungstüre. Dass ich mit plitschnassen Haaren, frisch aus der Dusche, in Trainerhose und Adiletten dastand und mit verdroschener Miene auf sie runterschaute, schien sie nicht weiter zu verunsichern.

Im Gegenteil. Ob ich eine Playstation oder etwas Gutes zu essen dahätte, wurde gefragt. Ich tolerierte die kleinen Plagegeister nur so lange, bis sie den Ball gefunden hatten, und warf sie dann wieder raus. Diejenigen, die den Kletterpfad über die junge Eiche wählten, waren unberechenbarer, hielten sich gerne lange auf dem Dach auf und drückten ihre Gesichter an mein Zimmerfenster, um einen Blick in mein Privatleben zu erhaschen. Ich hatte bis zu meinem Auszug keine Vorhänge. 

Mindestens einen der Zwerge habe ich wohl, verwickelt in ein intensives morgendliches Liebesspiel, traumatisiert, so bedeutete es mir zumindest der aufgeregte Schrei und der vorbeihuschende Schatten, welchen wir noch aus dem Augenwinkel verfolgen konnten.

Von da an machte ich häufiger Gebrauch von den rotbraunen Fensterläden.

Kinder waren jedoch nicht die einzigen Lebewesen, die sich auf dem Hortdach vor meinem Hoffenster herumtrieben. Da war auch noch die weisse Katze, die mir demonstrativ vors Fenster kackte. Alles haben wir probiert, um sie loszuwerden. Obwohl mein Mitbewohner Anti-Katzenspray (kann man so beschriftet kaufen) vor unsere Fenster sprühte, fand sie immer neue Wege, um ihr Geschäft in unserer Sicht- (und Riechweite) zu verrichten.

Auf dem Hortdachsammelte sich der Müll, der – vorsätzlich oder nicht– von den Balkonen der Stockwerke über uns herunterflog. Darunter befanden sich manchmal ausserordentlich sonderbare Gegenstände, etwa eine völlig verrostete Langhantel mit runden Gewichten, deren Produktionsjahr wir nach langen Diskussionen und Internetrecherchen irgendwo zwischen den 50er- und 60er-Jahren bestimmten. Neben Kleidungsstücken, Feuerzeugen, Besteck und Bierdosen fand ich eines Tages auch ein kleines Sukkulenten-Assortiment mitsamt unbeschädigtem Topf. Ich adoptierte sie. Lange überlebten sie nicht.

Für uns war das Hortdach mehr als nur ein Dach. Unsere Privat-Terasse wurde zum Sonnbaden verwendet, zum Hosten grosser Dinnerpartys und als Probeplattform für meinen Mitbewohner und seine Band. Drangen aus den anderen Fenstern zum Hof entnervte Schreie und Flüche, wussten sie, dass die Zeit für einen Live-Auftritt noch nicht reif war.

Vom Balkon unserer Küche aus  sah man auf die Hohlstrasse. Der Lavendel in den Hängetöpfen starb bereits im ersten Jahr. Der Russ der Abgase hielt sich hartnäckig an der Fassade fest und bahnte sich den Weg in die Räumlichkeiten, sobald man die Fenster länger als eine halbe Stunde offenliess. Das Fensterputzen gab ich nach einigen Wochen auf. Gleich vis-à-vis stand ein Rotlicht- und Tempoblitzer, der alle fünf Minuten aktiviert wurde. Daraus entstand schnell ein Trinkspiel, vor allem an Wochenenden, wenn die Aargauer mit ihren Protzkarrossen stadtein- und auswärts fuhren. Auf diesem Balkon verbrachte ich viele Sommernächte. Mit Freund:innen oder allein. People watching. Zusammenstösse von Trams der 8er-Linie und wendenden Autos gab es mindestens einmal pro Woche. Szenegänger:innen, die rennradschiebend ihre Dreiecksbeziehungsprobleme besprachen, liefen in Scharen unter meinem Balkon hindurch Richtung Bullingerplatz. Über den neusten Szene-Gossip war ich also unfreiwillig sehr gut informiert. Am liebsten aber beobachteten wir die Autospektakel kurdischer Hochzeitsgemeinschaften. Farbenfrohe Autos, die Braut winkte in die Welt hinaus, begleitet von kreativen Hup-Rhythmen. Wir klatschten und winkten zurück.

Als mein Mitbewohner endlich dazustiess, lernten wir die unmittelbare Nachbarschaft kennen. Im obersten Stock wohnten drei Techno-Nerds, die mit einem Arrangement von analogen Synthesizern wilde Partys auf unserer kleinen Dachterrasse oder in unseren Kellergewölben veranstalteten.

Als dann immer wieder die Polizei gerufen wurde, beschloss die Verwaltung, die Dachterrasse endgültig zu schliessen, klebte, nagelte und schraubte alle Zugangswege, Fenster und Türen zu. Lange dauerte es nicht, bis die Jungs sie wieder geöffnet hatten. So ging dieses Spiel einige Runden, bis die Verwaltung schliesslich aufgab. Zwischenfälle mit der Polizei gab es danach keine mehr. Alle schienen auf ihre eigene Weise etwas gelernt zu haben. Im mittleren Stock wohnte eine Schauspielerin. Auf einer Dachterrassenparty habe ich aus Versehen ihr Glas beschlagnahmt, welches ich ihr auch nach mehrmaligem Nachfragen ihrerseis nie zurückgegeben habe. Irgendwie fand ich es sonderbar, dass ihr dieses Ikea-Glas so wichtig war. Wenn du das liest: I’m sorry!

Einen Stock tiefer wohnte eine Studentin, die oft ihren Schlüssel vergass. Und so kam es, dass sie regelmässig bei uns Obdach fand. Einmal schlief sie friedlich auf meinem Bett ein, während ich am Schreibtisch arbeitete. Unkompliziert sympathisch. Sie borgte Kaffee, brachte aber immer welchen zurück. Auf sie war Verlass.

Gleich gegenüber wohnte ein Paar, das unglaublich lauten Sex hatte. Ihre Wohnung schloss an die Schlafzimmerwand meines Mitbewohners an, der das laute Schreien und Stöhnen irgendwann so satt hatte, dass er beim kleinsten Geräusch von der anderen Seite den holländischen Disco-Hit «Noodgeval» von Goldband in voller Lautstärke aus seinen Speaker schallern liess. Natürlich sangen wir lauthals mit und hielten uns die Bäuche vor Lachen. Doch auch wir waren Lärmverursacher; die Wohnung über uns musste sich einige spätnächtliche Musik-Eskapaden gefallen lassen; Lovetrio rauf und runter. Das Album von «Just» bis «Love» in Dauerschleife. Acid Jazz.

Im Laufe der Jahre zogen zwei ehemalige Schulkameraden in das Haus ein. Ein grosses Klassentreffen gab es nie, dafür aber einige Biere zu dritt, in einer unserer Wohnungen.

Zwischen Haustüre und unserer Wohnung im ersten Stock gab es noch eine kleine Einzimmerwohnung. Gewohnt hat da niemand. Aber an Samstagabenden wurde dort gespielt, getrunken und geraucht. Wer dieses illegale Casino betrieben hat, ist mir bis heute ein Rätsel, die Gäst:innen waren jedoch stets freundlich und gut aufgestellt. In Spielnächten roch das Treppenhaus nach frisch aufgesetztem Çai und kaltem Zigarettenrauch. 

Im Keller hatten wir ein kleines Abteil, wo neben der Militärausrüstung meines Mitbewohners, einer defekten Kaffeemaschine, leeren Kartons und meinen «Filmutensilien» auch mein Wein gelagert wurde. Nicht viel, dafür aber guter. Einmal wurde eingebrochen. Gestohlen wurde nichts; doch die Flaschen lagen leer, ausgetrunken am Boden. Freiwein oder so. Einmal platzten auch sämtliche Abwasserrohre, was den Keller zu einer regelrechten Kanalisation verwandelte. Am schlimmsten betroffen davon waren die Jungs des Evin Kebabs, die ihr Konserven- und Getränkelager in unserem Keller hatten.

Hier, in der Hohlstrasse, habe ich gelacht und geweint, vieles erlebt und gesehen. Gelebt. Mehr als das oben geteilte, möchte ich nicht teilen. Gewisse Erfahrungen sollen bei mir bleiben. Spannend war meine Zeit bei dir, du Strasse aller Strassen.
Auf Wiedersehen.

15. August 2024

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