Text von Natacha Rothenbühler
02:59. Ich stehe am offenen Fenster und sauge die Nachtluft ein. Vor mir liegt die Lorrainebrücke, die Strassenlaternen rechts und links sehen aus wie zwei überdimensionierte Lichterketten. Ich liebe diese Aussicht, ich liebe diese Stadt. Eine leichte Panik breitet sich in mir aus. Stopp, ich schüttle sie direkt wieder ab und bleibe am Fenster stehen, bis mich die frische Nach-Gewitterluft frösteln lässt.
Mit offenen Augen lege ich mich hin. Das Gedankenkarussell dreht auf Hochtouren, schlafen kann ich jetzt nicht.
Als ich im April gefragt wurde, ob ich Lust hätte, zu einer Freundin nach Zürich zu ziehen, war meine erste Antwort ein deutliches Nein. Aber nachdem ich mir immer mehr zugestand, die Idee durchzuspielen, spürte ich so etwas wie eine verhaltene Euphorie aufkommen.
Es gab schliesslich einige Faktoren, die für einen Umzug sprachen: Ich studierte bereits in Zürich, das neue Zimmer würde (JuWo sei Dank!) halb so teuer sein wie meines in Bern, mein Job in Bern war befristet bis Ende Juni. Aber was für die Entscheidung ausschlaggebender war als diese äusseren Umstände: mein Gefühl. Beim Gedanken an den Umzug spürte ich eine positive Aufregung, mein Körper vibrierte. Die Aussicht auf Veränderung, eine neue Perspektive. In mir regte sich eine Vorfreude, wie ich sie schon lange nicht mehr gespürt hatte.
Je näher aber der Umzug rückte, desto mehr hinterfragte ich die Entscheidung: Warum lasse ich das Vertraute zurück? Es ist doch alles gut hier. Werde ich meine Freund:innen in Bern verlieren? Die haben doch kein Cash, um sich jede Woche die Zugfahrt leisten zu können!
Eine rosa Brille schob sich vor meine Augen. Der Sommer in Bern war genau so, wie ich mir ihn vorgestellt hatte: viele Freund:innen treffen, in den Tag hineinleben, viel Ausgang, Auskatern im Lorrainebad – Aareschwumm, dann Eiskaffee mit Hafermilch und Pommes mit Mayo, bestes Leben. Es ging mir gut, ich hatte das Gefühl, mir mein Leben endlich so gestaltet zu haben, dass ich mich darin wohlfühlte. Warum setze ich das aufs Spiel? Meine Mama sagte zu meinen Zweifeln nur: «Im Sommer ist eh immer alles besser, lass dich nicht von diesem Gefühl aufhalten.» Sie hat Recht. Im Frühling war das Gefühl so klar gewesen, dass eine Veränderung kommen musste. Ich glaube, ich bin zu bequem geworden in Bern. Und ich finde, dass man sich solchen Herausforderungen stellen sollte – wenn man kann. Es nervt umso mehr, dass mein Gehirn jetzt ungefragt in den Panikmodus schaltet.
Irgendwo in meinen Gedanken taucht die Phrase «Aufhören, wenn es am schönsten ist» auf. Ob das wohl eine masochistisch veranlagte Person in die Welt gesetzt hat? Egal, irgendwie beruhigt es mich. Ich romantisiere die Bernzeit schon jetzt, wo ich noch da bin, meine (vorauseilende) nostalgische Ader übernimmt. Ich gehe, wenn es am schönsten ist, und freue mich jetzt schon aufs Heimkommen.
Trotzdem hasse ich Abschiede. Ich glaube, wir haben nie gelernt, richtig Abschied zu nehmen. Entweder entscheidet man sich für die völlige Verdrängung, oder aber man zelebriert Abschiede übertrieben, so wie wir es aus den Teeniefilmen, Soaps und Musikvideos kennen.
Ich wähle für den Bern-Abschied die zweite Variante. Setze mich nachts zurück ans offene Fenster und höre traurige Musik, erlaube mir, den Abschiedsschmerz zu fühlen und mich ihm hinzugeben. Ich weine bittere Tränen – was, wenn plötzlich jemand stirbt und ich nicht da bin?! – und lache mich gleichzeitig selbst aus, kann mich nicht ernst nehmen. Zürich-Bern, das ist eine Stunde. Andere Menschen können nicht frei entscheiden, wo sie wohnen wollen, lassen ihr ganzes Leben für immer zurück. Krieg, Umweltkatastrophen, Wohnungsknappheit, und, und, und.
Ich weiss ich habe Glück, weiss meine Privilegien zu schätzen. Als wäre die mir «zugeflogene» Wohnung nicht schon genug, wohnt meine beste Freundin schon seit mehreren Jahren in Zürich und ich werde in ihre Nähe ziehen, vier Minuten Fussweg. Auf eine Art also auch ein Heimkommen zu ihr, nach sieben Jahren Stadtdistanz. Reunion, juhu, die Vorfreude ist gross. Und als wäre alles eine Fügung des Schicksals – nein, daran glaube ich echt nicht – habe ich mir eine Woche vor dem Umzug noch einen Job organisiert. Züri, here I come.
30. August 2024