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Broke ist (nicht) en vogue

Die junge Mittelschicht liebt es, pleite oder «broke» zu sein. Nicht so wirklich broke, dass man sich Sorge um die Miete, Lebensunterhaltskosten – kurz ums Überleben machen müsste. Mehr so «scheinbroke». Über die Romantisierung von Armut und warum das ein Problem ist.

Von Gisèle Moro

Raves in heruntergekommenen Lagerhallen, Graffiti in Club- und Bartoiletten, Cafés in denen der Putz von den Wänden bröckelt, das Holz zerkratzt und die Tassen keine Tassen sondern Einmachgläser sind – diese Ästhetik, die inspiriert von Armut ist, meine ich hier. Bevor mich die Mittel- und Oberschicht-Kids, die das hier lesen mit Mistgabeln jagen – let me explain. Im Gespräch mit einer alten Schulfreundin, die um einiges reicher aufgewachsen ist als ich und Kunst hier in Berlin studiert, fällt mir eine Sache auf. Sie erzählt: «Ich war letzten Monat im Urlaub in Spanien und hab‘ mir auch noch ein neues Macbook bestellt. Und jetzt bin ich halt mega broke. Voll blöd, aber naja.» Was mich an dieser Aussage stutzig macht, ist nicht nur die Amüsiertheit, mit der sie diese Worte äussert. Es ist auch die Tatsache, dass es ihre Eltern – beides Architekt:innen – sind, die ihre Miete und ein grosszügiges Taschengeld pro Monat zahlen. Nun habe ich natürlich keinen Einblick in ihre Finanzen. Und wie sie mit ihrem Geld umgeht, geht mich ja auch gar nichts an. Doch seit dem Gespräch mit ihr lässt mich eine Frage nicht mehr los: Kann eine Person mit einem Mittel- oder gar Oberschicht-Hintergrund wirklich jemals broke sein? Oder ist «Brokeness» Teil einer trendy Ästhetik, durch die man interessanter wirkt? Was bedeutet es überhaupt, arm zu sein?

Ich setzte mich in ein Café, in Neukölln, bestellte einen Eislatte für 6 Euro, klappte wie alle um mich herum meinen Laptop auf und begann meine Recherche.

Das Jugendwort «broke» ist schon lange kein Fremdwort mehr. Ganz im Gegenteil: Für viele zählt der Anglizismus bereits zum Alltagsvokabular. Und obwohl der Begriff «broke» meist darüber definiert wird, dass man wenig oder kein Geld besitzt, ist er nicht ganz mit Armut gleichzusetzen. Denn Definitionen von Armut reichen um einiges tiefer. Seit September 2022 gilt, laut der Weltbank, jemand als absolut arm, wenn pro Tag im Durchschnitt unter 2,15 Dollar zur Verfügung stehen. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) versteht unter (absoluter) Armut «die Unfähigkeit, menschliche Grundbedürfnisse zu befriedigen». Diese Grundbedürfnisse umfassen beispielsweise den Konsum von Nahrungsmitteln, Gesundheitsversorgung, die Ausübung von Rechten, Mitsprache, Sicherheit oder menschenwürdige Arbeit. Wichtig ist hier auch die Erwähnung von relativer und gefühlter Armut. Relative Armut beschreibt die Armut im Verhältnis zum jeweiligen gesellschaftlichen und nationalen Kontext. Gefühlte Armut ist subjektiv, und setzt voraus, dass die eigene materielle Lage, unabhängig von den tatsächlich verfügbaren Ressourcen, als mangelhaft empfunden wird.

Nach diesem Input wird mir klar, dass es selten (per Definition) wirklich arme Menschen sind, die sich selbst als «broke» bezeichnen. Oder habt ihr schonmal ein Gespräch mit einer alleinerziehenden Mutter geführt, die sich die Schulbücher ihres Kindes nicht leisten kann, weil sie gerade halt ein bisschen «broke» ist? Ja genau, ich auch nicht. Meiner Erfahrung nach sind es vielmehr linke und künstlerisch-kreative Kreise, in denen man sich nur allzu gerne mit der «Brokeness» schmückt.

Aber woher kommt diese Diskrepanz?

Vielleicht liegt es daran, dass arme Menschen schlichtweg damit beschäftigt sind, arm zu sein und keine Kapazität haben, ihre Gedanken daran zu verschwenden, den eigenen Struggle zu fetischisieren. Wenn man sich nur eine günstige Sozialwohnung in irgendeinem Plattenbau am Rand der Stadt leisten kann, ist der Gedanke an eine Party in einer heruntergekommenen Lagerhalle vielleicht weniger charmant oder kontrastreich. Ausserdem werden arme Menschen nicht selten selbst für ihre finanzielle Lage verantwortlich gemacht und dafür beschämt. Sie werden als faul, dumm und inkompetent beleidigt, etwas das Menschen aus höheren sozialen Schichten eher erspart bleibt. Vielleicht liegt es auch einfach daran, dass es heutzutage zu einem gewissen Grad trendy ist, zu struggeln. Weil es in kreativen Kreisen das beliebt-berüchtigte Narrativ des brillanten aber mittellosen Kunstschaffenden fördert, der oder die trotz Umständen Grossartiges erschafft. Weil es authentisch, cool und stark rüberkommt, es nicht einfach zu haben und trotzdem irgendwie alles zu meistern. Und vielleicht auch, weil es für die ein oder andere Person aus reichen Verhältnissen einfacher ist, arm zu spielen, als zuzugeben, wie privilegiert man eigentlich ist. Als würde die eigene Armut, oder die gespielte «Armut» eine Manifestation der eigenen antikapitalistischen Ansichten werden. Und somit bestärken, dass man selbst eine Person ist, die versteht, was es heisst, von Staat und Gesellschaft im Stich gelassen zu werden. Eine:r von den «Guten», die auf der richtigen Seite der Geschichte stehen. So nach dem Motto: Ich bin selber betroffen, also verstehe ich den Struggle. Vielleicht ist es auch einfach nur Langeweile, und der Drang, danach einem Trend zu folgen.

Wie dem auch sei, die Romantisierung von Armut geht über individuelle Entscheidungen hinaus und ist schon längst auch auf institutioneller Ebene abgekommen. Das «Live Below the Line Project» von der NGO Global Citizen forderte erstmals 2008 dazu auf, für fünf Tage von nur 1,15 Dollar zu leben. Orientiert war dieser Wert an der damaligen Durchschnittssumme, die armen Menschen global pro Tag zur Verfügung stand. Vermutlich war es nicht beabsichtigt, Nicht-Arme Menschen dazu zu motivieren, eine Woche lang «arm zu spielen», doch leider war genau das häufig das Resultat. Während also die Wanna-be-Armen sich darüber beschwerten, sich die teure Mandelmilch nicht kaufen zu dürfen, litten wirklich Arme still. Und das nicht nur körperlich, sondern vor allem auch mental. Denn die Auswirkungen von Armut auf die Gesundheit sind immens. In einer Publikation des Robert-Koch-Instituts von 2010 werden zahlreiche gesundheitliche Folgen von Armut aufgelistet. Nicht nur sind in Armut lebende Menschen anfälliger für chronische Erkrankungen und Gesundheitsbeschwerden wie Diabetes oder Bronchitis, arme Menschen neigen auch eher zu Depressionen und Angststörungen und haben eine geringere Lebenserwartung.

Menschen, die in Armut leben, können sich aus ihren Umständen nur mit grösster Schwierigkeit selbst befreien, wenn überhaupt. Und genau das ist der Punkt. Menschen aus wohlhabenderen sozialen Schichten haben nämlich eine Wahl: Die Wahl, nicht arm zu sein.
Natürlich ist es nicht verwerflich, einen nachhaltigen und bewussten Lifestyle zu führen und wenn dieser auch kostensparend ist, umso besser. Natürlich ist es auch nicht garantiert, dass man Zugang zum Geld der eigenen Familie hat. Worum es hier wirklich geht, ist, wie die eigenen Ressourcen, vor allem im Verhältnis zu anderen Menschen betrachtet und eingeschätzt werden, und wie mit diesen Ressourcen umgegangen wird. Also nochmal ein schneller Reminder an alle Klassen-Flexitarier:innen unter euch: Armut ist kein Hobby, Armut ist kein Trend und Armut macht keinen Spass! Zum Monatsende Nudeln mit Ketchup zu essen und dabei «Money, Money, Money» von Abba in Dauerschleife zu hören, hat nicht sehr viel mit realer Armut zu tun. Und nur weil man sich mal arm fühlt, heisst das noch lange nicht, dass man es auch ist.

20. März 2023

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