Dysmorphophobie, auch körperdysmorphe Störung oder Body Dysmorphia genannt, beschäftigt einen grossen Teil unserer Gesellschaft. Unter einer Geschlechtsdysphorie leiden im Gegensatz deutlich weniger. Aber was versteckt sich überhaupt hinter diesen Begriffen und wie kann eine Aufklärung darüber unsere Gesellschaft zu weniger Leid und einem gesünderen Körperbild verhelfen? Wir haben mit einer betroffenen Person gesprochen und liefern Aufschluss.
Der Unterschied zwischen Dysmorphia und Dysphoria
Unter einer körperdysmorphen Störung versteht man im klassischen Sinn eine verzerrte Wahrnehmung des eigenen Körpers. Menschen, die daran leiden, beschäftigen sich meist intensiv mit einem oder mehreren vermeintlichen Makeln des eigenen Aussehens. Die daraus resultierenden negativen Gedanken an das Erscheinungsbild beeinträchtigen dabei den Alltag, das Selbstbewusstsein und die eigene Wahrnehmung enorm. Bereits eine Kleinigkeit am eigenen Körper sorgt dafür, dass man sich hässlich oder sogar entstellt fühlt. Die Folgen davon: Stress, Angst und eine auf Dauer gestörte Wahrnehmung des eigenen Körpers.
Beim Recherchieren zu der Bedeutung hinter diesem wissenschaftlichen Begriff, wurde mir schnell klar, wie die Problematik des verzerrten Körperbilds wohl mittlerweile fast als Volkskrankheit bezeichnet werden könnte. Geschürt durch verfälschte Bilder auf Social Media, irreführende Filter und falsche Erwartungshaltungen macht sich ein mittlerweile unerreichbares Körperideal in unserer Gesellschaft breit, das individuell starke Trigger für einer gestörten Wahrnehmung auslösen kann.
Daraus folgend können sich gefährliche Krankheitsbilder und Essstörungen wie Bulimie entwickeln, welche einen intensiven und mühevollen Leidensweg mit sich ziehen.
Das besonders Gefährliche daran: Leidet man unter einer ausgeprägten Dysmorphophobie, sieht die betroffene Person in der Regel auch keine positiven Veränderung am eigenen Körper, selbst wenn getroffene Massnahmen dazu führen würden. Das Individuum fühlt sich somit auch bei «vermeintlichen Erfolgen» nicht besser und der Teufelskreis und die Obsession mit dem vermeintlichen Makel enden in einer fortlaufenden Negativspirale. Die Heilung einer körperdysmorphen Störung übersteigt dahingehend auch den rein körperlichen Aspekt und hängt eng mit der eigenen Psyche und der mentalen Gesundheit zusammen.
Anders, wenn auch ähnlich und keinesfalls weniger bedrückend, verhält sich hier die Geschlechtsdysphorie. Während jede Person unter einer Dysmorphophobie leiden kann, bezieht sich die sogenannte «gender dysphoria» auf das Geschlecht des Individuums.
Aufschluss darüber ergibt allein die Bedeutung des Wortes «Dysphorie»: Dieses kommt aus dem Griechischen und bezieht sich auf einen Zustand des Unbehagens oder Unwohlseins. In Bezug auf Menschen, die sich als trans identifizieren, bedeutet Geschlechtsdysphorie somit, dass eine Person enormen Stress empfindet, da die angeborene Geschlechtsidentität nicht mit dem biologischen Geschlecht übereinstimmt, das bei der Geburt zugewiesen wurde. So leiden vor allem Transmänner und Transfrauen unter Geschlechtsdysphorie, aber auch nicht-binäre Menschen können davon betroffen sein. Meist spüren Betroffene bereits im Kindesalter, dass sie sich mit ihrem biologisch zugewiesenen Geschlecht nicht wohl fühlen. Primäre, wie auch sekundäre Geschlechtsmerkmale (zum Beispiel Brust und Vulva) werden abgestossen und sind oft mit Angst, Depression und stetigem Unwohlsein verbunden.
Leidet eine Person fortdauernd unter diesem Unbehagen, spricht man von Geschlechtsdysphorie.
Ein Unterschied bei der möglichen Heilung von Dysphoria und Dysmorphia ist vor allem dadurch gegeben, dass einer Geschlechtsdysphorie gezielt mit physischen Massnahmen entgegengewirkt werden kann. Hormontherapie oder angleichende Operationen können sogar «Geschlechtseuphorie» auslösen, was das Pendant zur Geschlechtsdysphorie beschreibt.
Aber wie ist es, seit Jahren mit solch einer intensiven Auseinandersetzung zwischen Körper und Geschlecht konfrontiert zu sein? Ben, ein junger und offener Transmann, erzählt mir mehr.
Gefangen in Rollen und Geschlecht
Wann Ben gemerkt hat, dass er sich mit dem bei seiner Geburt zugewiesenen Geschlecht nicht identifizieren kann, lässt sich nur schwer sagen, erzählt er.
«Ich weiss aber noch, dass ich schon als kleines Kind immer lieber ein Junge sein wollte.»
Spätestens mit der Pubertät machte sich aber ein permanentes Gefühl des Unwohlseins bei ihm breit, dass er zunächst nicht richtig greifen konnte. Die Berührung von primären, wie auch sekundären Geschlechtsmerkmalen war ein absolutes No-Go, wie er mir beschreibt. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Identität schien damals noch so fern, dass sich unter anderem ein binärer Struggle mit den Geschlechterrollen in der Gesellschaft entwickelte. Als weiblich gelesene Person wurden männlich zugewiesene Merkmale wie Körperbehaarung in der Schule als eklig beleidigt. Durch fehlende Aufklärung und die von Geschlechterrollen geprägte religiöse Erziehung des Elternhauses wurde Ben bis zum Erwachsenenalter nicht bewusst, dass er sich entgegen seines Empfindens sein ganzes Leben lang Geschlechterrollen unterworfen hatte.
Der Alltag gestaltete sich nicht leicht: Oft habe er aktiv versucht, sich fertigzumachen. Der Blick in den Spiegel, der Körper und das eigene Empfinden waren geprägt von Gegensätzen. Das Gefühl zu dieser Zeit beschreibt er als «einschränkend und in Ketten gelegt.»
Mit 18 sei er dann ausgezogen. Ein Befreiungsschlag. Von da an ging auch alles relativ schnell und Ben kam in eine Art «Flow», wie er seine Entwicklung beschreibt. Durch eine Liebesbeziehung und zusammen mit der neu gefundenen Selbstbestimmtheit kam auch die Auseinandersetzung mit der eigenen Identität mehr ins Rollen. Wie so oft hat auch ihm Google eine Tür zu Informationen und Antworten geöffnet. Während dem Lesen eines Artikels machte es dann plötzlich «klick» und Ben konnte seinem Empfinden endlich einen Namen geben: Ich bin trans.
«Man durchläuft eine zweite Pubertät»
Nach einem intensiven und auch mühseligen Weg voller Therapie, Gesprächen mit Psycholog:innen und Behörden durften dann erste Massnahmen getroffen werden, die Bens Geschlechtsdysphorie entgegenwirkten.
Ich weiss noch, als ich nach der Mastektomie (Brustentfernung) aufwachte. Ich fühlte mich mega stark und selbstbewusst. Wie wenn ein Knoten geplatzt wäre.
Ben
Gleichzeitig habe er so viel mehr über Geschlechter und die damit verbundenen Rollen erfahren, Unterschiede, aber auch Gleichheiten festgestellt.
«Es ist aber auch echt hart. Ich meine, man durchläuft dann eigentlich nochmals eine ganze zweite Pubertät», erzählt er mir. Trotz vielen Glücksgefühlen, welche beispielsweise die Hormontherapie und die Erfolge daraus mit sich brachten, ist es doch auch einen Schritt, über den man sich definitiv intensiv informieren sollte.
Auch wenn Therapiegespräche einen echt mitnehmen werden, ist es trotzdem äusserst wichtig, dass man während des ganzen Prozesses immer wieder relativiert, evaluiert und gewisse Optionen auch hinterfragt, erzählt Ben. Getroffene Massnahmen können in der Regel fast nicht mehr rückgängig gemacht werden, weshalb es äusserst wichtig ist, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen.
Aus diesem Grund wird die Behandlung von Minderjährigen in Bezug auf Transidentität auch oft kritisiert. Wenn ein Kind die von der Gesellschaft geformten Konstrukte von Geschlecht und Geschlechterrollen vielleicht noch nicht ganz einschätzen kann, sind Fehldiagnosen oft fatal.
Genau aus diesem Grund sei nicht nur mehr, sondern auch umfangreiche Aufklärung in der Gesellschaft notwendig. Dies hilft nicht nur allen Betroffenen, sondern bewahrt auch vor Fehldiagnosen. Das Brechen von Stereotypen und Rollen in der Gesellschaft sei wichtig, damit sich jede Person gesund entfalten könne. Ben habe es zudem sehr geholfen, neben Spezialisten auch mit einem anderen Transmann zu sprechen, den er wissbegierig mit all seinen angestauten Fragen löchern durfte.
Wohl und stark im eigenen Körper
Nach einer turbulenten Zeit fühlt sich Ben mittlerweile wohl in seinem Körper. Unter einer Geschlechtsdysphorie leide er nicht mehr, erzählt er. Für ihn konnten die richtigen Schritte und Massnahmen getroffen werden, damit seine Identität mit seinem Körper übereinstimmen würde. Auch wenn Ben die Dysphorie überwunden hat, hadert er nun mit der Körperdysmorphophobie, wie es viele tun, ergänzt er. Normal sollte eine Körperdysmorphophobie aber natürlich nicht sein, auch wenn unser gesellschaftliches Denken vielleicht tief darin verankert sein mag.
Kämpfst du intensiv mit deinem Körperbild? Such dir Hilfe! Hier sind einige Anlaufstellen, die dir helfen könnten:
Arbeitsgemeinschaft Ess-Störungen AES
Zentrum für Essstörungen, Klinik für Konsiliarpsychiatrie und Psychosomatik
Pro Juventute, Beratung für Kinder und Jugendliche, Tel. 147
Dargebotene Hand, Sorgen-Hotline, Tel. 143
Und auch wenn sich die Geschlechtsdysphorie und Dysmorphophobie unterscheiden, lässt sich doch auch feststellen, dass mit begleiteter Beratung und einer umfangreichen Aufklärung allen Betroffenen zumindest geholfen werden kann.
Würde man in der Schweiz vermehrt eine gesunde Beziehung zum eigenen Körper pflegen und einen offenen Geist gegenüber Geschlechter und Rollen haben, würden wir wohl schon einen grossen Schritt in die richtige Richtung machen.
Leidest du unter Geschlechtsdysphorie? Oder kannst du dem Gefühl, welches du empfindest, noch keinen richtigen Namen geben? Brauchst du Beratung? Hier findest du Hilfe:
LGBT+ Helpline, Tel. 0800 133 133
Transgender Network Switzerland
Lilli.ch, Information und Verzeichnis von Beratungsstellen
Milchjugend, Übersicht von Jugendgruppen
Elternberatung, Tel. 058 261 61 61
13. Juni 2022