Der Frühling ist erwacht – und abgesehen von lästigen Insekten und fiesem Heuschnupfen bringt diese Saison noch eines mit sich: Frühlingsgefühle. Auf meinem Nachhauseweg ähnelt die U8 einem Labyrinth, gepflastert mit Pärchen, die sich händchenhaltend liebäugeln, und an dessen Ende sich der eine freie Sitz wie ein heiliger Gral versteckt (den Sitz finde ich übrigens nie). Stehend lasse ich meine U8-Gedanken schweifen. Über Frühling, zu Heuschnupfen (Gesundheit, gute Dame, zukünftig bitte nicht in die Hände niesen), zu Verliebtheit, zu Beziehungen, zu…Bindungsstile? Was hat es mit diesen eigentlich auf sich? Endlich zu Hause angekommen, gehe ich dem Thema näher auf den Grund: Ab ins Internet.
30 Sekunden Googeln und 20 Multiple-Choice-Fragen später liegt das Resultat für meinen angeblichen Attachment Style vor, den ich mir mit einem entsetzlichen Gefühl von Ertapptheit durchlese. Nein, meine Resultate werde ich nicht mit euch teilen, ihr Geier. Wenn ich schon einen emotionalen Striptease in der Öffentlichkeit hinlege, dann nur, wenn mir so viele Geldscheine ins Gesicht flattern, dass ich vor grün, gelb und lila nicht mehr sehen kann.
Was ich aber durchaus mit euch teilen kann, sind die vier (etwas vereinfachten) Attachment Styles, zwischen denen unterschieden wird: Der sichere Bindungs-Typ (secure Attachment Style), der vermeidende Bindungs-Typ (avoidant Attachment Style), der unsicher-ambivalente Bindungs-Typ (Anxious preoccupied Attachment Style) und der desorganisierte Bindungs-Typ (fearful avoidant Attachment Style).
Und obwohl diese Theorie ihren Ursprung bereits in den 1950ern hat, ist es spannend zu beobachten, wie Mainstream und Social Media tauglich sie ist (oder vielmehr gemacht wurde). Plötzlich proklamieren sich dutzende Social-Media-User:innen als «Dating Experts», die den Schlüssel zu wahren Beziehungen – romantisch und platonisch – gefunden haben. Aber handelt es sich bei Attachment Styles wirklich wissenschaftliche Erkenntnisse oder ist es mittlerweile doch eher verdünntes Social-Media-Gelaber, bei dem naive User:innen auf der Suche nach Selbsterkenntnis hinters Licht geführt werden?
Was ist Attachment?
Es war einmal ein britischer Psychologe – John Bowlby der Name – der sich intensiv mit dem Thema «Attachment» (dt. Bindung) befasste. Bei Attachment handelt es sich um eine anhaltende, emotionale Verbindung zwischen Menschen, die einen Austausch von Komfort, Fürsorge, Vergnügen und/oder Lust umfasst. Auch wenn die Wurzeln dieser Theorie bei Freuds Liebestheorien liegen, akkreditieren viele Bowbly, wenn es um Bindungsstile geht. Die Psychologin Mary Ainsworth führte in den 50ern und 60ern eine Studie durch, in der sie die Interaktion zwischen Müttern und deren Kleinkindern beobachtete. Sie folgerte, dass es in erster Linie die Beziehung zwischen Caregiver und dem Kind ist, die das spätere Verhalten in Beziehungen beeinflusst. Hierbei sind aber nicht ausschliesslich Kindheitserfahrungen wichtig. Auch spätere Erfahrungen können relevant sein. Nichtzuletzt ergab sich aus Bowlbys und Ainsworths Recherche der Schluss, dass das «Sich-binden» an andere Menschen auch einen evolutionären Ursprung hat – denn es sicherte das Überleben.
Die 4 Bindungsstile
Bindungsstile sind durch unterschiedliche Arten der Interaktion und das Verhalten in Beziehungen gekennzeichnet. In der frühen Kindheit konzentrieren sich diese Bindungsstile darauf, wie Kinder und Eltern miteinander umgehen. Im Erwachsenenalter beschreiben die Bindungsstile die Bindungsmuster von Beziehungen, vor allem romantischer Art.
Heute wird meist zwischen vier Bindungsstilen unterschieden:
Sicherer Bindungsstil
Menschen mit einem sicheren Bindungsstil haben ein starkes Selbstbewusstsein und können effektiv kommunizieren. Sie fühlen sich wohl damit, intime Beziehungen einzugehen, sind aber selbstbewusst genug, alleine zu sein. Aufgewachsen in einem «Heile Welt-Haushalt», in dem vertrauensvoll Gefühle adressiert und ausdiskutiert wurden, haben diese Menschen keine Angst davor, emotionally available und auch mal verletzlich zu sein – ob mit Partner:innen oder Freund:innen.
Unsicher-ambivalenter Bindungsstil
Unsichere, ambivalente Typen zögern oft, sich anderen zu nähern, und fürchten, dass ihre Partner:innen ihre Gefühle nicht erwidern. Sie brauchen viel Bestätigung und fühlen sich oft unwürdig, geliebt zu werden. Mindestens genauso gross wie die Sehnsucht nach Intimität ist die Angst, vom Partner oder der Partnerin verletzt oder abgelehnt zu werden.
Der Theorie nach stammen Menschen mit diesem Bindungsstil aus Haushalten, in denen die Elternteile kaum für das Kind verfügbar waren. Die Bedürfnisse des Kindes blieben unbeachtet.
Unsicher-vermeidender Bindungsstil
Menschen mit diesem Bindungsstil haben ein sehr geringes Bindungsverhalten und wollen Menschen nicht zu nahe kommen. Sie setzen Intimität und Nähe mit einem Verlust von Freiheit gleich und tendieren dazu, sich Ausreden zu überlegen, um genau diese emotionale Intimität zu meiden. Als Kinder haben sie ihre Bezugspersonen als zurückweisend empfunden und vermieden den Kontakt, um weitere schmerzhafte Erfahrungen zu meiden.
Desorganisierter Bindungsstil
Und Last but not least – der desorganisierte Bindungsstil. Dieser Bindungsstil zeigt im Kindesalter wie auch im Erwachsenenalter eine verwirrende Mischung aus ängstlichen und vermeidenden Beziehungen. Auch sie haben Schwierigkeiten, sich zu öffnen und verletzlich zu sein. Es ist nicht selten, dass diese Menschen erst Zuneigung zeigen, nur im nächsten Moment zu switchen und Personen von sich zu stossen. Sie tendieren dazu, ihre Beziehungen zu sabotieren, und haben Schwierigkeiten, ihren Partner:innen zu vertrauen. Das führen Forscher auf inkonsistentes Verhalten der Eltern zurück. Eltern, die für ein Kind sowohl als Angst- als auch als Carepersonen fungieren, tragen demnach zu einem desorganisierten Bindungsstil bei.
Attachment kann sich ändern
Obwohl sich diese Stile in der frühen Kindheit herausbilden, können sie sich im Laufe der Zeit verändern. Eine Person, die als Säugling eine unsichere Bindung hat, kann auch in einigen Jahren eine Beziehung zu einer warmen Bezugsperson aufbauen, was den Bindungsstil beispielsweise ändern kann. Darüber hinaus betrachten Psycholog:innen die Attachment Styles als Framework, das nicht nur fluid, sondern auch kontextabhängig ist. Ein sicherer Bindungsstil mit einer Person garantiert keinen sicheren Bindungsstil mit einer anderen.
Attachment Styles – was ist dran?
So einiges ist an Attachment Styles dran. Sie sind aus einer Reihe wissenschaftlicher Studien etabliert worden. Nichtsdestotrotz sollten sie mit Vorsicht genossen werden. Denn die Art und Weise, wie Attachment Styles auf sozialen Medien kursieren, ist eine verdünnte und simplifizierte Version der eigentlichen Wissenschaft. Darüber hinaus wirkt sich eine Fülle an Gründen auf das Verhalten der Partner:innen in einer Beziehung aus. Es besteht die Gefahr, sich selbst in seinem Attachment Style zu fangen und sich somit in der Wahl zukünftiger Beziehungen einzuschränken. Gleichzeitig lädt die Auseinandersetzung mit dem eigenen Attachment Style zur Selbstreflexion ein und kann, wenn richtig gehandhabt, ganz schön viel Einsicht bringen.
Wie es wohl um die Bindungsstile der Pärchen in der U8 steht? Wer weiss, vielleicht sehe ich ja einige davon nächsten Frühling wieder.
09. Mai 2024