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«Bei uns sind alle gleich. Das ist es, was den Kiosk ausmacht.»

Kioske sind so viel mehr als Verkaufshäuschen für Zigaretten, Lose oder die Tageszeitung. Oft sind sie vor allem Quartiertreffpunkt und Ort zum Sein – so auch der Kiosk am Röschibachplatz in Zürich.

Von Leila Alder

Text von Leila Alder und Susanna Bosch

Der Röschibachplatz mitten in Zürich Wipkingen: Rundbänke um Schatten spendende Bäume, Velofahrer*innen in der Abendsonne, Quartierbewohner*innen beim Feierabendbier in der «Nordbrücke». Buntes Treiben. An der Südseite des Platzes, zwischen Bäckerei, Apotheke und Kinderkleiderladen, liegt der Röschibach-Kiosk. Im Erdgeschoss eines sanierten Mehrfamilienhauses, hinter den Schaufenstern eines ehemaligen Elektrofachgeschäftes. Vor dem Kiosk stehen mehrere Tische, die zusammengewürfelt bestuhlt sind; farbige Klappstühle mit schuppig-blätternden Holzlatten, leichte Plastikhocker, abgewetzte Sitzkissen auf Lehnstühlen, ein schwarzer Horgenglarus-Bistrostuhl.  Fast jeder Stuhl ist besetzt.

«Hey, ciao Vreni, sitzt hier jemand?», fragt ein Neuankömmling. «Ja, der Chef», antwortet Vreni, «aber der muss arbeiten.» Ein Mann in Jeans, kariertem Hemd und weissen Turnschuhen tritt aus dem Kiosk. Noch auf der Schwelle begrüsst Frederic seinen neuen Gast: «Kann ich dir ein Stängeli bringen?» Der Gast bejaht und setzt sich in die Runde. Als ein Taxi vorfährt, steht die Tischälteste wortlos auf und spaziert samt Rollator zum Taxifahrer. Dieser verstaut die Gehhilfe routiniert im Kofferraum und hilft der Dame beim Einsteigen. Das Auto rollt weg und die Damenhand bewegt sich hinter der Autoscheibe von links nach rechts. Der Tisch winkt zurück.

Die tatsächliche Chefin des Röschibach-Kiosks ist aber Frederics Partnerin Anja. Ihr Vorgänger, Emil, der den Kiosk jahrelang geleitet hatte, verstarb Ende 2022 überraschend an einem Aortariss. In den Kiosk, den sein Vater einst eröffnete, hatte er viel investiert, ihn etwa um eine Bar erweitert. Mit den Sitzgelegenheiten im Innenraum konnte sich das Lokal zum sozialen Treffpunkt entwickeln.

«Nach Emils Tod sassen wir wie auf Nadeln. Alle hofften, dass Anja den Kiosk weiterführen würde», erzählt eine Stammkundin. Der Wunsch der Stammkund*innenschaft ging in Erfüllung: Anja, Emils Schwägerin und langjährige Mitarbeiterin, übernahm Anfang 2023 den Röschibach-Kiosk. Als sie begann, für Emil zu arbeiten, hatte sie zunächst Berührungsängste gegenüber der Klientel. Doch sie wurden schnell abgebaut. «Du lernst die Geschichten hinter den verschiedenen Persönlichkeiten kennen, das ist schön. Ich würde auch an keinem anderen Ort in der Gastro arbeiten. Es ist der soziale Aspekt hier, der mich antreibt und erfüllt.» Jemals wieder einen 08/15-Job zu machen, kann sich Anja nicht vorstellen. Sie führt den Kiosk gemeinsam mit Frederic, der einst «Röschi»-Stammgast war, ihrem Sohn Karim, dessen Freund Pat und zwei Aushilfen.

Eine der Aushilfen hat zuvor das Frauenhaus geleitet. «Da muss man sich wenigstens keine Sorgen um die Sozialkompetenz machen», sagt Frederic. Die sorgfältige Auswahl der Mitarbeiter*innen sei essenziell. Sie müssen die Kund*innen lesen und auf sie eingehen können. Passend also, dass die zweite Aushilfe, Claudia, selbst langjährige Stammkundin ist. «Das ‹Röschi›-Team ist sehr harmonisch und einfühlsam, das kreiert eine schöne Atmosphäre. Ich hatte mich vorher nie getraut, in der Gastro zu arbeiten, aber dann hat Anja mich gefragt, ob ich Lust hätte, bei ihnen auszuhelfen. Ich habe gemerkt, dass es hier, in diesem Umfeld, sehr gut geht und mir Freude bereitet», erklärt sie. 

Abgesehen vom Team hat sich bisher nicht viel verändert im Kiosk. Lediglich kleine Anpassungen wurden vorgenommen: ein frischer Anstrich, neue Barelemente und eine kleine Bühne für regelmässige Veranstaltungen. Die Bühne im Kiosk steht allen zur Verfügung, die etwas darbieten möchten. Eine Art Open Stage. Die Stammgäst*innen haben die Veränderungen gut angenommen. Bloss an die neuen Stühle hätten sie sich gewöhnen müssen, er­zählen sie. 

«Anja, ich nehme da noch so einen Gipfel», ruft ein Gast und nimmt sich einen gefüllten Gipfel unter der Glasglocke auf der Ablage. «Hast du geschaut, dass du den richtigen nimmst?Letztes Mal hast du einen mit Wurst- statt Nussfüllung erwischt.» Der Gast kontrolliert. «Doch, doch – ist der richtige. Das passiert mir also nicht noch einmal», sagt er und lacht. 

Der Röschibach-Kiosk hat an 365 Tagen im Jahr geöffnet. «Höchstens am Neujahrsmorgen hängen wir ein Schild raus mit ‹Geschlossen wegen Überfeierung›», erzählt Frederic. Montags bis freitags öffnet der Kiosk um fünf Uhr morgens, am Wochenende zwei Stunden später. Die frühen Morgenstunden gehören Anja. Sie steht auf, wenn Frederic nach Hause kommt. Dann bereitet sie Kaffee und Gipfeli für Pöstler*innen, Lastwagenfahrer*innen oder Schichtarbeiter*innen zu. Abgesehen vom Hauptbahnhof gebe es in Zürich kaum Möglichkeiten fürs frühe Zeitunglesen oder Sandwich-Kaufen, erklärt Frederic.

Wenn Frederic am Nachmittag zum Kiosk kommt, erwarten ihn meistens ein Riesengeschnatter und viele bekannte Gesichter. «Ich weiss von allen, wie lange sie bleiben, oder mit wem sie sich den Heimweg teilen.» Die Abendschichten bringen aber auch Verantwortung mit sich: Das Bier zu viel nicht mehr ausschenken, ein Taxi bestellen, wenn eine*r «in Schieflage» ist, oder auch mal Gäst*innen nach Feierabend selbst heimfahren. «Das ist meine Aufgabe. Wenn etwas passiert, geht das auf mich zurück.»

Frederic sieht den Röschibach-Kiosk als Safer Space. Ihm ist es wichtig, Platz für Schwächere zu machen: «Alle haben ihre Geschichten und ihren Rucksack, dafür muss man Verständnis aufbringen. Bei uns sind alle gleich. Das ist es, was den Kiosk ausmacht.» Respektlosigkeit wird nicht geduldet, denn niemand soll sich deplatziert fühlen. Der Röschi­bach-Kiosk ist ein Ort, wo jede*r herkommen, umherwandeln, sich hinsetzen, austauschen und mitteilen kann – ganz ohne Konsumzwang. Viele der Gäst*innen kommen jeden Tag. 

«Claudia, ich bezahle noch eine Stange.» Claudia begutachtet eine der vielen Rechnungen, die hinter der Bar liegen. «Du hast noch zwei offen. Hast du eine schon bei Anja bezahlt?» Der Gast überlegt, kramt in seinem Münz-Portemonnaie. «Ich bin mir jetzt gerade ein bisschen unsicher.» «Macht nichts. Ich schau später nach. Sonst bezahlst du’s dann einfach beim nächsten Mal.» Der Gast gibt ihr sein Wort. 

In den letzten Jahren haben um den Röschibachplatz herum ein Bioladen und mehrere Yuppie-Bars aufgemacht, im kommenden Monat sollen in das Haus gegenüber ein Vicafé und eine Gelateria di Berna einziehen. Noch ist der ganze Block in Baunetz eingepackt. Die Inhaber*innen des Röschibach-Kiosks blicken entspannt zur Baustelle vis-à-vis. Sie sind gespannt, wen die Veränderungen zu ihnen auf den Platz bringen werden. Früher gab es hier viel Einzelhandel und Kleingewerbe – ganz ohne würde es langweilig werden. «Aber die Preise dürfen nicht immer weiter ansteigen. Wenn sich die Zürcher Quartiere noch mehr verändern, bricht das ganze Soziale weg. Die Menschen hören nicht auf zu trinken, wenn der Alkohol mehr kostet. Dann gehen sie in den Coop und trinken allein zu Hause», sagt Frederic. «Der Röschibach-Kiosk ist ein Dinosaurier – diese Orte sterben aus. Dabei sind sie enorm wichtig: Hier treffen sich Menschen, sind füreinander da, hören einander zu. Man darf sich mit einer gekauften Büchse oder auch einem gezapften Bier dazusetzen. Für ein Quartier ist es extrem wichtig, dass es durchmischt bleibt.»

Im Röschibach-Kiosk sind die Bierpreise seit zehn Jahren gleich geblieben. Der teuerste Wein kostet sieben Franken. Vereinzelte Preisanpassungen wurden lediglich bei der Übernahme gemacht. Dass es den Röschibach-­Kiosk in dieser Form noch gibt, ist nicht zuletzt dem Hausbesitzer zu verdanken. Denn es ist auch sein Wunsch, dass der Ort ein sozialer Treffpunkt bleibt. Er wolle keinen «Hipsterschuppen». Die Miete hat er bei der Übernahme nicht erhöht, und wenn er selbst mal im Kiosk vorbeischaut, unterhält er sich lange mit den Gäst*innen.

«Dank des tiefen Mietzinses können wir noch hier sein mit den Preisen, die wir haben. Sonst: Genickbruch. Die Gäst*innen, die hier verkehren, können sich auch nichts Teureres leisten. Das Schöne bei uns ist: Wir sind frei, haben keine Vorschriften im Sortiment, von Marken wie Coca-Cola zum Beispiel. Wir möchten selbst bestimmen, was wir verkaufen», erzählt Frederic. Wenn Gäst*innen Sortiments­wünsche äussern, bemühen sich die Betreiber*innen, sie zu erfüllen. So findet man im Röschibach-Kiosk einen bunten Mix an Produkten. Neben Cornflakes und frischem Brot gibt es eine beeindruckende Auswahl an Shots und Tabakwaren. Liebevoll zubereitete «Chääsweggli» und die legendären Dessertcremes von Stalden runden das Sortiment ab. Die Topseller sind Kafi Lutz und Bier. Einige Whisky-Trinker*innen gibt es auch. Die wollen aber nur den guten – dafür sorgt Frederic. 

Es regnet. Die Stühle vor dem Röschibach-Kiosk sind spärlich besetzt. Drinnen herrscht dafür reger Betrieb. Gespräche werden über die Tische hinweg geführt, Zeitungsartikel herumgereicht. Die alte Frau mit dem Rollator mittendrin. Anja hat viel zu tun. Nimmt sich aber immer wieder Zeit für Gespräche mit Gäst*innen. Sie bereitet einen «Kafi GT mit Pfluume und eim Zucker» zu, während ihr eine rot getigerte Katze um die Beine streift. «Die ist uns zugelaufen. Wir wissen nicht, wem sie gehört. Sie ist die ganze Zeit bei uns. Fredi bringt sie nächste Woche zum Tierarzt, um zu schauen, ob sie gechipt ist.»

Dieser Beitrag ist ein Auszug aus dem Buch «Kiosk – Ein Kaleidoskop», herausgegeben vom Limmatverlag und der Plattform Kulturpublizistik der Zürcher Hochschule der Künste.

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