«Kann ich davon auch essen?», fragte ich den Verkäufer der Brockenstube, als ich mich das erste Mal in so einen farbenfrohen, handgemachten Teller verliebte. «Ja, ich denke schon, aber in die Spülmaschine würde ich den lieber nicht tun.» Alright. Seither wurde meine Teller- und Schüssel-Sammlung immer grösser und ich finde jedes Mal ein weiteres Brocki-Unikat. Obwohl ich sonst sehr minimalistisch lebe, kann ich es bei diesem besonderen Steingut einfach nicht lassen. Und das Gute ist: Leere Küchenschränke habe ich noch genug.
Letztens dachte ich mir trotzdem: «Naja, ich kann halt wirklich nicht andauernd neue Teller und Schüsseln kaufen, weil – wie viele davon braucht ein Mensch?» Aber da ich das Gefühl habe, diese wertvollen Erinnerungsstücke von Menschen, die ich nicht mal kenne, auf irgendeine Weise zu retten und ihnen dadurch eine neue Bestimmung zu geben, mache ich das einfach mal, bis sich die Regale zu doll verbiegen. Ein paar aussortieren oder Freunden schenken kann ich immer noch, wenn ich vor lauter Tellern das Besteck nicht mehr sehe. Und wenn ich es übers Herz bringe.
Die Teller und Schüsseln integrierten bei mir – ohne, dass ich es dadurch bewusst beabsichtigte – ein langsameres und achtsameres Leben. Slow Living. Ich esse nicht nur von den Tellern, sondern wähle sie vorher mit Bedacht aus. In welcher Stimmung bin ich? Will ich lieber den schwarz-gelb-gemusterten Teller, den ganz bunten oder den blumigen? Den richtig schweren oder den mittelschweren? Wie wirken die Farben mit meinem Essen? Das ist jedes Mal etwas fürs Auge – und die positiven Vibes, die im Kunstwerk stecken, haben sicher zusätzliche Nährwerte. Da bekommt der Ausdruck «Ich habe den ganzen Teller aufgegessen!» erst seine wahrhaftige Bedeutung, denn wenn ich könnte, würde ich ihn gleich mit verspeisen.

Beim Abwaschen mit der Hand fühle ich die Löcher, die noch an ihren ursprünglichen Verwendungszweck erinnern. Die Schnüren zum Aufhängen habe ich allerdings abgeschnitten. Doch auch die in den Ton verewigten Initialen oder manchmal auch komplette Namen und Jahreszahlen lassen mich in Nostalgie versinken. Immer wieder lese ich sie und frage mich: Wer waren diese Personen? Was hat sie dazu inspiriert, damals mit der Erde in Dialog zu gehen und mit Ton zu töpfern? Diese Handwerkskunst nutzt eine der ursprünglichsten Materialien und braucht auch eine der ursprünglichsten Tugenden: Geduld. Nur so kann etwas geformt werden und sich verwandeln, und zwar durch die Kraft der eigenen Hände. Kreative Energie, persönlicher Ausdruck und sogar Emotionen werden feinfühlig mit hineingearbeitet. Das, was dabei entsteht, ist ein Werk der Entspannung und Hingabe; eine Selbsterfahrung im Loslassen und Empfangen zugleich.
Die menschlichen Spuren der Unperfektheit sind auf jedem Teller und jeder Schüssel zu sehen und genau das macht sie so einzigartig und wertvoll. Jede Unebenheit ist poetisch. Irgendwie ungewollt gewollt. Die kleinen Makel sind es, die das Geschirr von jenen Teller- und Schüssel-Sets aus der Massenproduktion abheben, bei denen alles haargenau gleich aussieht und die das Essen im Vergleich eher fad schmecken lassen. Das ist nicht verwunderlich, wenn die wichtigsten Zutaten bei der Produktion fehlen: Liebe. Detailreichtum. Einmaligkeit. Menschlichkeit. Sind unsere Hände nicht geschaffen, um zu erschaffen? Heute wird es leider allzu oft Maschinen überlassen und so entstehen seelenlose Dinge, die ausser einem Preis nichts zu erzählen haben.
Das jahrzehnte-alte Keramik aus der Schweiz hingegen feiert immer noch die Schönheit im Unvollkommenen und Vergänglichen, und spiegelt so, ohne es zu wissen, das ästhetische Konzept des Wabi-Sabi aus Japan wider. Es besagt, dass etwas nur wirklich schön ist, wenn es eine sichtbare Geschichte nachweisen kann; Spuren des Lebens. Authentizität und kleine Unstimmigkeiten anstatt Perfektion in fabrikneuen Produkten. Es ist wie bei den Perserteppichen, in die jedes Mal absichtlich ein Fehler eingewoben wird – als Ausdruck der Demut, dass wahre Perfektion nur Gott vorbehalten ist und kein Mensch sich je dem annähern kann. Tatsächlich sind charakteristische Makel in Mustern und aufwendigen Malereien auch viel angenehmer und spannender für Augen und Gehirn als fehlerlose, sterile Formen. Kleine Asymmetrien ziehen unsere Aufmerksamkeit auf sich und sind sympathischer, da sie natürlich und menschlich wirken. Das erklärt auch, warum wir Unbehagen empfinden, wenn etwas zu makellos und künstlich wirkt, wie zum Beispiel KI-generierte Gesichter.

Durch die Fotos für diesen Artikel hat sich dann eine Idee offenbart, wofür ich wirklich noch mehr Brocki-Keramik-Einzelstücke brauche: Ich nehme also in Zukunft ein paar Teller und Schüsseln für Deko. So wie früher eben. Back to the roots. Damals war es schliesslich üblich, schöne Dinge nicht einfach in Schränken zu verstecken, sondern die Ästhetik im Alltäglichen sichtbar zu machen. Und da ich sowieso die ganzen Teller und Schüsseln zum Zeigen ausräume und meine Begeisterung dafür teile, wenn mich jemand besucht, liegt es nahe, mir eine Sammlung an die Wand zu hängen. Wie? Ganz im modern-vintage-flair: Auf einem runden Juteteppich, verstärkt durch eine runde Holzplatte und mit LED-Beleuchtung hinten dran, können sich die zeitlosen Teller bestaunen lassen.
02. Mai 2025